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Bombenanschlag in Wehrhahn 25 Jahre ungestraft
Beim Erinnern an den Bombenanschlag stand lange der mutmaßliche Täter im Mittelpunkt, mittlerweile liegt der Fokus auf den Opfern
In einer unscheinbaren Plastiktüte war die Bombe versteckt, die vor 25 Jahren am Düsseldorfer S-Bahnhof Wehrhahn zehn Menschen verletzte und ein ungeborenes Kind tötete. Die Plastiktüte hing am Geländer auf einem Weg zum Bahnsteig. Die Bombe darin wurde per Fernzünder aktiviert, genau als eine Gruppe von Sprachschülerinnen daran vorbeiging. Dass nicht mehr Menschen gestorben sind, ist wohl nur der Tatsache zu verdanken, dass der Sprengstoff in der Bombe verunreinigt war. Wer die Bombe gelegt hat, ist bis heute offiziell nicht aufgeklärt, obwohl es lange nach einer späten Aufklärung aussah.
Im Februar 2017 wurde Ralf S. festgenommen. Die Düsseldorfer Polizei und Staatsanwaltschaft erklärten medienwirksam, dass sie sich sicher seien, den Anschlag nach langer Zeit aufgeklärt zu haben. Der Tatverdächtige Ralf S. war schon damals kurz nach der Tat ins Visier der Ermittlerinnen geraten. S. betrieb in der Nähe des Tatorts und direkt gegenüber der Sprachschule, die zu diesem Zeitpunkt vor allem von sogenannten Jüdischen Kontingentsflüchtlingen besucht wird, einen Militaria-Laden.
Ralf S. wird als »Sheriff« des Stadtteils Flingern bezeichnet oder bezeichnet sich selbst so. Jedenfalls »patrouilliert« er regelmäßig mit seinem Hund durch den Stadtteil. S. ist Mitglied der extrem rechten Partei DVU und in der lokalen Neonaziszene verankert. Als die Ermittlerinnen kurz nach der Tat auf ihn stoßen, läuft allerlei schief. Eine erste Hausdurchsuchung wird später als »grober Stubendurchgang« bezeichnet. Die Ermittlerinnen gehen auch anderen Spuren nach. Im Umfeld der Opfer suchen sie nach der »Russenmafia«. Das diskriminiert die Opfer, trägt allerdings nichts zur Aufklärung bei. Die Ermittlungen verlaufen im Sande, irgendwann ist nur noch ein Polizist mit ihnen beschäftigt.
2014 meldet sich dann die Justizvollzugsanstalt Castrop-Rauxel bei den Ermittlerinnen, Ralf S., der eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßt, habe einem Mitgefangenen gegenüber den Anschlag gestanden. Die Ermittlungen beginnen von Neuem und werden aufwendig geführt: Profiling, Überwachungsmaßnahmen, zahlreiche Zeuginnenbefragungen. Im Februar 2017 wird Ralf S. dann schließlich festgenommen. Der Prozess gegen ihn gerät dann jedoch zur Enttäuschung. Zeuginnen sagen nicht, wie erwartet aus, Ralf S. präsentiert sich als tumber Lügner. Am Ende wird der Angeklagte freigesprochen. Es gibt Zweifel, ob er technisch dazu fähig war, die Bombe zu bauen und wo er ganz genau am Tatort war. 18 Jahre nach der Tat konnte das Geschehen nicht mehr genau genug rekonstruiert werden. Viele Beobachterinnen sind sich jedoch einig, dass S. die Tat begangen haben muss.
Die Geschichte der fehlenden Aufklärung wurde an diesem Sonntag genauso erzählt, wie der Oberbürgermeister und die Bezirksbürgermeisterin mahnende und warnende Worte finden. Spannender ist allerdings, was die Autor*innen eines neuen Buches zum Anschlag bei der Gedenkveranstaltung erzählen. Mit »Und dann kam die Angst …« nehmen Fabian Virchow und Sabine Reimann auf, wie die Ehrenvorsitzende der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, Ruth Rubinstein, das Gefühl nach der Bombe von Wehrhahn beschreibt.
In dem Band haben die beiden Wissenschaftlerinnen verschiedene Autorinnen versammelt, die tiefer blicken. Auf das unterbelichtete Phänomen des anti-osteuropäischen Rassismus, auf antisemitische Stimmungsmache in extrem rechten Medien gegen Jüd*innen aus Osteuropa und auf die Strukturen der Neonaziszene um die Jahrtausendwende.
Einen noch stärkeren Fokus nimmt das Buch aber auf die Betroffenen, und hier ist besonders ein Interview mit Ekaterina Pyzova eindrücklich. Die heute 75-Jährige überlebte den Anschlag damals schwer verletzt und aus ihr spricht die bittere Enttäuschung. Pyzova berichtet, dass sie aus Kasachstan nach Deutschland kam, ihr wichtigstes Ziel: arbeiten gehen. Nach dem Anschlag lag sie einen Monat im Krankenhaus. Dafür interessierte sich in den Ämtern niemand. Sie solle doch putzen gehen, hieß es vom Arbeitsamt. Hilfe beim Ausfüllen von Anträgen gab es nicht. Von der Polizei wurde sie vor allem nach der »Russenmafia« gefragt.
Ekaterina Pyzova ist sich sicher: »Wir waren Russlanddeutsche. Das ist der Grund, dass wir keine Hilfe gekriegt haben und kein einziger Mensch sich je bei uns entschuldigt hat.« Dass heute an den Anschlag erinnert wird, findet Pyzova gut, die 75-Jährige leidet allerdings an Krebs und kann nicht mehr selbst teilnehmen, für sie käme »das alles zu spät.« Warum Ekaterina Pyzova trotzdem noch über die Tat spricht? Sie hat Hoffnung auf Gerechtigkeit – und dass sich doch »etwas bewegt«, wenn viele Menschen ihre Meinung sagen: »Nicht jetzt, heute oder morgen, aber perspektivisch; dass den Opfern wirklich geholfen wird. Denn so kann es nicht weitergehen.«
An diesem Sonntag hängen viele Zitate von Ekaterina Pyzova in dem langen Gang, der zum S-Bahnsteig hinunterführt. Manche Menschen bleiben stehen und lesen sie, vielleicht hilft es, die Erinnerung an eine Tat hochzuhalten, von der selbst in Düsseldorf viele nichts wissen.
(Die Initiative »Wehrhahn erinnern« hat den Anschlag auf ihrer Homepage ausführlich aufgearbeitet. »NSU-Watch« hat kürzlich einen Podcast veröffentlicht, der verschiedene Aspekte des Anschlags aufarbeitet.)
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