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Solingen-Prozess: Kein Wille, den Rassismus der Mitte zu benennen
Im Prozess um den Solinger-Brandanschlag wird die eingeschränkte Sicht der Justiz für Rassismus sichtbar
An diesem Mittwoch geht sehr wahrscheinlich der Strafprozess um den Solinger Brandanschlag von 2024 zu Ende. Eine vierköpfige Familie starb damals, zahlreiche weitere Menschen wurden verletzt. An diesem Montag war das Plädoyer der Staatsanwaltschaft angesetzt. Sie fordert eine lebenslängliche Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung für den mutmaßlichen Täter. Er habe vermutlich gehandelt, um sich selbst zu überhöhen und Frust abzubauen. Der Brandanschlag wird nicht ungestraft bleiben, davon kann man ausgehen. So weit, so gut.
Ein Grund zur Erleichterung ist das erwartete Urteil aber nicht. Fast die Hälfte der Zeit des Plädoyers nutzte der Staatsanwalt, um Argumente anzubringen, warum die Tat nicht »fremdenfeindlich« motiviert gewesen sein könne. Die Beleidigung von Menschen als »Kanaken«, könne schon mal passieren. Der Konsum von extrem rechter Propaganda, kein Hinweis auf eine eben solche Einstellung. Schließlich hat die Freundin des Angeklagten gesagt, dass er nicht rechts sei. Dass sie selbst täglich im Netz allerlei fragwürdige Propaganda teilt, hat die Staatsanwaltschaft nicht einmal zur Kenntnis genommen.
Stattdessen verteilt der Staatsanwalt Vorwürfe in Richtung Nebenklageanwält*innen, Presse und zivilgesellschaftliche Prozessbeobachter*innen. Nur weil in Solingen ein Haus brenne und dabei Menschen sterben, müsse der Täter noch lange kein Rechter sein. Da seien einige auf ihre eigenen Vorurteile hereingefallen, so der Staatsanwalt. Sie alle seien von einer rassistischen Tat ausgegangen und hätten die Augen vor den Indizien verschlossen, die dagegen sprächen.
Die Augen verschlossen hat im Fall des Solinger Brandanschlags die Staatsanwaltschaft. Sie erkennt nicht an, was in der Wissenschaft schon seit Jahren bekannt ist: Den Rassismus, der auch in der Mitte der Gesellschaft vorherrscht. Der Tatverdächtige von Solingen ist bestimmt kein Neonazi, es sind keine Teilnahmen an rechten Aufmärschen bekannt, und er hat auch nicht in Hakenkreuzbettwäsche geschlafen. Bekannt ist aber, dass er immer wieder in Streit geriet mit Migrant*innen und dass er sich abfällig über sie äußerte.
Das hätte auch die Staatsanwaltschaft anerkennen können. Aber dann wäre alles nicht so leicht, wie es jetzt wird. Dann müsste man nämlich darüber sprechen, warum wir in einer Gesellschaft leben, die ständig Rassismus reproduziert und damit auch ihren Anteil an Taten wie denen von Solingen hat. Dass deutsche Staatsanwälte dazu nicht unbedingt gewillt sind, ist nachvollziehbar. Schließlich sind sie Teil des Justizsystems, das oft genug an der Reproduktion von Vorurteilen beteiligt ist.
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