Linke Debattenkultur: Mehr Vorwurf als Diskussion

Melanie Jaeger-Erben reagiert auf die Kritik an ihrem vergangenen Kolumnenbeitrag

Sprachnachrichten – Linke Debattenkultur: Mehr Vorwurf als Diskussion

Selten hat ein Kolumnenbeitrag von mir eine solche Resonanz entfaltet, wie mein letzter – zugegeben etwas launischer – Beitrag zu den potentiell problematischen sozialen und ökologischen Folgen der Sprachnachrichten-Inflation in der zwischenmenschlichen Kommunikation. Meine steile These: Vielleicht ist dieser Trend nicht nur eine Frage der Convenience, sondern Ausdruck neoliberaler Kommunikationsverdrängung, bei der Zeitersparnis auf der einen Seite zum Zeitdiebstahl auf der anderen wird. So weit, so normal kolumniert: Die Überspitzung einer Beobachtung mit dem Ziel, Diskussion anzuregen

Was dann in Social Media folgte, war gewissermaßen symptomatisch für viele Diskussionen innerhalb eher linksorientierter Communities. Es wurde nämlich nur wenig diskutiert, sondern vor allem vorgeworfen: Ich sei ableistisch, adultistisch, elitaristisch. Denn schließlich seien Sprachnachrichten für manche Menschen – etwa mit Leseeinschränkungen oder geringer Medienkompetenz – ein wichtiges Werkzeug. Dieses Tool zu kritisieren sei dann nicht weniger als eine Diskriminierung benachteiligter Gruppen.

Nun. Es ist wichtig, auf blinde Flecken hinzuweisen. Ja: Ableismus ist real. Adultismus und Elitarismus sind es auch. Es sind Beschreibungen realer Machtverhältnisse. Aber: Müssen wir wirklich jede überspitzte These, jede kulturkritische Beobachtung, jedes ironisch gemeinte Stirnrunzeln an der Lebensrealität aller denkbaren Menschen abgleichen, bevor wir sie aussprechen dürfen?

Melanie Jaeger-Erben

Prof. Melanie Jaeger-Erben lehrt Technik- und Umweltsoziologie an der Brandenburgischen TU Cottbus-Senftenberg.

Was ich als Transformationsforscherin zunehmend sorgenvoll beobachte, ist eine Ermüdung innerhalb linker und progressiver Bewegungen ob des moralischen Minenfelds, in das sich linke Diskurse schnell mal verwandeln. Sie werden dabei zu einem Ort, an dem sich Menschen, die ähnliche Ziele teilen – Gerechtigkeit, Solidarität, Inklusion – gegenseitig überbieten im Nachweis moralischer Sensibilität. Und der eigentliche Gegner – Ausbeutung, autoritäre Regression, fossiler Fatalismus – wendet sich müde lächelnd ab und treibt ungeniert weiter sein Unwesen.

Vielleicht ist es ein Symptom kollektiver Resignation. Die Verhältnisse sind hartnäckig, die rechten Strömungen laut, der sozial-ökologische Transformationsmotor stottert. Und weil reale Veränderung zäh ist, richten wir unsere moralischen Energiestrahlen eben nach innen. Was dabei unter die Räder kommt, ist die Möglichkeit, über den Normalfall zu sprechen. Denn es gibt ihn noch, den Medianbürger und sein mittleres Kommunikationsverhalten. Und genau dies braucht es als Referenzpunkt, um gesellschaftliche Dynamiken zu analysieren. Wer immer nur über Spezialfälle spricht, verliert das Allgemeine aus dem Blick und damit auch das Politische.

Mir geht es dabei nicht um mich, sondern um die Streitkultur, die leidet, wenn wir in erster Linie über Personen urteilen statt für unseres jeweiligen Interpretationen der Wirklichkeit zu streiten. Wenn jede allgemeine Beobachtung sofort mit einem -ismushammer zurückgeklopft wird, dann ersticken viele Debatten im Keim. Wenn wir unser Gegenüber vor allem beurteilen statt mit Argumenten herauszuforder, entziehen wir uns den Debatten und haben immer weniger Übung darin, uns mit der Welt zu streiten.

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