Wie eine Weltordnung entsteht und wieder vergeht

Von der Potsdamer Konferenz 1945 über Helsinki 1975 zum »Seasick Summit« in Malta 1989

  • Stefan Bollinger
  • Lesedauer: 9 Min.
Für die Fotografen waren sie sich einig: Churchill, Truman, Stalin. Churchill verschwand noch eher als der Konsens.
Für die Fotografen waren sie sich einig: Churchill, Truman, Stalin. Churchill verschwand noch eher als der Konsens.

Man nannte es die Dreimächtekonferenz von Potsdam. Im Sommer 1945 verhandelten die Staatschefs der Alliierten ohne Frankreich über die Nachkriegsordnung. Am Rande einer Sitzung am 24. Juli 1945 nahm US-Präsident Harry S. Truman »Generalissimus« Josef W. Stalin beiseite und erwähnte fast beiläufig, dass »wir eine neue Waffe von ungewöhnlicher Zerstörungskraft haben«. Der Generalsekretär der KPdSU schien kein besonderes Interesse zu zeigen, sagte lediglich, er freue sich, dies zu hören, wenn sie denn gut gegen die Japaner eingesetzt werden könnte. Noch von Potsdam aus erteilte Truman den Einsatzbefehl, der Hiroshima und Nagasaki wenig später einer ungeahnten nuklearen Katastrophe überantwortete.

Stalin wusste längst von diesem neuartigen waffentechnischen »Fortschritt« der USA und hatte auch schon Befehl gegeben, das eigene Atomprogramm zu forcieren. Ihm war klar, dass hier, in Potsdam, am Rande der Hauptstadt des gemeinsam vernichteten Nazireiches die zukünftige Weltordnung verhandelt, besser ausgehandelt wird. Die »Bombe« würde sie prägen. Er wusste um die Ränke der USA und Großbritanniens gegen die UdSSR, auch um Planungen einer »Operation Unthinkable«, die der britische Premier Winston Churchill just in diesen Tagen in Auftrag gegeben hatte – für einen Krieg gegen die Sowjetunion, auch mit kriegsgefangenen deutschen Wehrmachtssoldaten.

Kein Potsdam ohne Jalta, kein Verhandeln ohne Misstrauen

Trotzdem, vier Jahre gemeinsamen Kampfes der Alliierten gegen die faschistischen Mächte ließen auf eine bessere Weltordnung des Friedens und der Zusammenarbeit hoffen. In Jalta, sechs Monate zuvor, hatte der todkranke US-Präsident Franklin D. Roosevelt gemeinsam mit Stalin und Churchill Konturen dieser neuen Ordnung entworfen, zu der auch die Gründung eines neuen internationalen Gremiums der Völker gehören sollte, um »künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren«. Die Vereinten Nationen sollten getragen werden vom »Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein« sowie der »Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts«.

Der Krieg gegen die faschistischen Achsenmächte Rom und Berlin war gewonnen, Deutschland besetzt. Doch ein gefährlicher Gegner in Fernost war noch nicht niedergerungen. Die Niederlage des japanischen Kaiserreiches war aber nur eine Frage der Zeit, das mit den westlichen Alliierten vereinbarte Eingreifen der Roten Armee am 9. August an dieser letzten Front des Zweiten Weltkrieges würde diesen auch im pazifisch-asiatischen Raum diesen beenden. Der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 hätte es dazu nicht bedurft.

Die Vertreter der alliierten Hauptmächte, die Mitte Juli 1945 nach Potsdam reisten und bei der Gelegenheit auch das zerstörte Berlin, eine »ghost city«, so Truman, gesehen hatten, wussten, um was es ging: Es war nicht mehr und nicht weniger eine neue Weltordnung zu beschließen. Die USA wurden nach Roosevelts Tod im April durch Truman vertreten, die Briten repräsentierte auf der am 17. Juli beginnenden Konferenz im Schloss Cecilienhof zunächst Churchill, der jedoch nach wenigen Tagen aufgrund seiner Wahlniederlage seinen Platz am Tisch der »Großen Drei« dem neuen britischen Premier Clement Attlee überlassen musste. Stalin war der dienstälteste und erfahrenste Staatsmann in dieser Potsdamer Runde.

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Der sowjetische Partei- und Staatschef wusste, dass seine Befreiungsmission nicht mehr wohlgelitten war. Die faschistische Wehrmacht durfte er zerschlagen, aber die Gelegenheit zu nutzen, in Osteuropa eine ihm gemäße Ordnung zu errichten und dort Kommunisten den Weg zur Macht zu ebnen, würde ihm als ein Sakrileg angelastet. In Washington und London erinnerte man sich wieder der tödlichen Feindschaft gegen den Kommunismus, die nur wegen des weit schlimmeren Feindes, dem Hitlerfaschismus, kurzzeitig eingefroren war. Man misstraute Stalin, die neuen Nuancen in der sowjetischen Politik, die anfänglich durchaus nicht auf einen Export des Sowjetmodells des Sozialismus setzte, wurden nicht gesehen, nicht begriffen. Die tonangebenden Kreise in den USA gingen, so der britische Historiker Eric Hobsbawm, davon aus, dass »alle kriegführenden Staaten außerhalb der USA Ruinenfelder« und die nicht von Bomben getroffenen Vereinigten Staaten dadurch in einer privilegierten Position seien. Zudem schien ihnen insbesondere der europäische Kontinent »von hungrigen, verzweifelten und wahrscheinlich auch radikalisierten Menschen bewohnt, die nur allzu bereit waren, dem Appell zu einer sozialen Revolution und zu einer Wirtschaftspolitik zu folgen, die mit dem internationalen System des freien Unternehmertums, freien Handels und freier Investitionen, durch das die USA und die Welt gerettet werden sollten, unvereinbar gewesen wäre«, so Hobsbawm.

Ein antifaschistisches,
demokratisches Deutschland

Es war im Juli/August 1945 atmosphärisch zu ahnen, was folgen sollte. Es ging zunächst um das Schicksal des besiegten Deutschlands. Vom Tisch waren zu Beginn der Potsdamer Konferenz die Pläne der Zerstücklung des Landes, die vier schon auf der Konferenz der »Großen Drei« in Jalta vom 4. bis zum 11. Februar 1945 vereinbarten Besatzungszonen sollten eine zeitweilige Lösung sein und nicht die Errichtung eines neuen, einheitlichen deutschen Staates verhindern. Unstrittig war, dass Deutschland seine ehemaligen Ostgebiete an die Sowjetunion, Polen und die Tschechoslowakei abgeben und die neue Ostgrenze entlang von Oder und Neiße verlaufen solle. Das bedeutete einen gewaltigen Bevölkerungsaustausch, euphemistisch für viele betroffene Deutsche als »Transfer« bezeichnet.

Dem in vier Besatzungszonen – nunmehr auch Frankreich als Siegermacht bedenkend – geteilten Nachkriegsdeutschland wurden vier Prämissen vorgegeben, die vier großen »D«: Denazifizierung, Demilitarisierung, Dezentralisierung und Demokratisierung, um »dem deutschen Volk die Möglichkeit (zu) geben, sich darauf vorzubereiten, sein Leben auf einer demokratischen und friedlichen Grundlage von neuem wiederaufzubauen«, wie es im Potsdamer Abkommen heißt. Wohlgemerkt, dies waren erst einmal die Vorgaben für das militärisch geschlagene Deutschland und nicht Eckpunkte einer neuen Weltordnung.

Es war klar und die divergierende Praxis in den Besatzungszonen Ost und West zeigte es bald, dass diese anspruchsvollen Ziele von den Beteiligten unterschiedlich verstanden wurden. Dies betraf insbesondere die »Demokratisierung«, die konträr interpretiert werden konnte und wurde: Einerseits zur Sicherung der – wenn auch modifizierten, entnazifizierten und teilweise dezentralisierten – Macht- und Eigentumsverhältnisse des deutschen Kapitals oder andererseits deren Überwindung durch Orientierung auf eine vielleicht sozialistische, was letztlich jedoch auf das sowjetisch-stalinistische Gesellschaftsmodell hinauslief.

Es ging in den Abreden auch um die Klärung der Frage, wie mit den Kriegsfolgen umzugehen ist, wer Reparationen zu leisten habe. Ein Geschäft, das trotz einiger Zugeständnisse zu Lasten der Sowjetunion und ihrer Besatzungszone ausging. Der Osten Deutschlands hatte wesentlich mehr Reparationen zu erbringen und zudem stark unter teils willkürlichen Demontagen zu leiden. Einigkeit gab es unter den Alliierten hinsichtlich der strafrechtlichen Verfolgung der Kriegs- und Menschheitsverbrechen, wie sie dann in den Nürnberger Prozessen 1945/46 und folgenden noch ernsthaft betrieben wurde. Mit den Nürnberger Prinzipien wurde zugleich das moderne Völkerstrafrecht begründet.

In historischer, sattsam bekannter imperialer Tradition grenzten die »Großen Drei« 1945 in Potsdam ihre Einflusszonen ab, ohne die Völker zu fragen.

In bekannter historischer imperialer Tradition grenzten die »Großen Drei« ihre Einflusszonen ab. Das sicherte in Osteuropa wie auch in Nah- und Mittelost den Status quo für die östliche Siegermacht wie für die Westmächte. Die betroffenen Völker jedoch, und meist noch nicht einmal deren politische Vertreter, wurden nicht gefragt, sie hatten sich in ihr Schicksal zu fügen. Zu den Leidtragenden, die sich anzupassen hatten, gehörten auch Westeuropas Kommunisten und Sozialisten, die in dieser Konstellation ihre revolutionären Visionen aufgeben mussten. Das bekamen ebenso zunächst nationale oder sozialistische Befreiungsbewegungen zu spüren, so im Iran, Vietnam oder China. Chinas Sitz in der Uno nahm damals ein Vertreter der antikommunistischen Regierung von Chiang Kai-shek ein.

Gesellschaftliche Entwicklungen unterliegen jedoch oft einer nicht zu kontrollierenden Dynamik, Schwächen der einen werden von der jeweils anderen Seite sofort ausgenutzt. Und doch blieb es über vier Jahrzehnte in groben Konturen bei der auf der Potsdamer Konferenz eingeläuteten bipolaren Weltordnung. Alle Seiten hatten sich verpflichtet, dass der Einflussbereich des jeweils anderen als unantastbar gilt. Egal, ob im Iran oder in Guatemala Revolutionen versucht oder in Berlin, Budapest, Prag oder Warschau der von Moskau definierte realsozialistische Weg infrage gestellt wurde. Das funktionierte so lange, wie beide Seiten sich ökonomisch entwickelten und militärisch in Schach hielten, vor allem der Neuaufsteiger, der »kommunistische Block«, sich im Wettstreit der Systeme behaupten konnte.

Gut zwanzig Jahre nach Potsdam waren es die Warschauer Vertragsstaaten, welche die Initiative zu einer Konferenz der europäischen Sicherheit ergriffen, den sogenannten KSZE-Prozess anstießen. Es sollte vor allem die Unantastbarkeit der Grenzen und Einflussgebiete der Systeme völkerrechtlich fixiert werden. Die Vertreter des östlichen Bündnisses übersahen jedoch: Die Welt hatte sich weiterentwickelt, reine militärische Stärke mit nuklearem Patt reichte nicht mehr. Die sozialen Errungenschaften der realsozialistischen Staaten genügten nicht mehr wachsenden individuellen Bedürfnissen und kollidierten mit ökonomischer Potenz, die Wirtschaft im sogenannten »Ostblock« litt unter Reformunfähigkeit. Währenddessen vollzog sich im Westen eine neue neoliberale, scheinbar auf die Interessen des Individuums zielende Umwälzung, die die dortigen Gegenkräfte schwächte, die nach 1945 den Kapitalismus mit Sozialstaat und weiteren Demokratisierungsbestrebungen einzuhegen versucht hatten. Vor allem aber setzten nun die westlichen Staaten auf jenen Teil der Menschenrechte, der ihnen geeignet schien, die gleichsam monolithischen realsozialistischen Staaten zu untergraben: Die individuellen Menschenrechte, der Ruf nach bürgerlichen Freiheiten, die mit medialer Penetranz, hehren Worten und harter Valuta den Bürgern in Warschau, Prag oder Berlin suggerierten, dass soziale Sicherheit ja nicht schlecht sei, aber Reisefreiheit, Unternehmertum, individuelle Selbstbestimmung gegen die Allmacht von Staat und Partei noch viel wichtiger seien.

Ja, 1945 wurde in Potsdam eine Weltordnung festgeschrieben, die zumindest in Europa Frieden versprach, die aber oft genug am Rande des nuklearen Weltbrandes balancierte, sozialistische Revolutionen in Vietnam, China und Kuba ermöglichte und einen vom »sozialistischen Lager« unterstützten Dekolonialisierungsprozess erlebte – aber schlussendlich mit einer gravierenden Veränderung der internationalen Kräfteverhältnisse und dem Wegfall der Attraktivität und Verteidigungsfähigkeit der einen Seite, des Realsozialismus, ihr Ende fand.

Dieses abrupte Ende besiegelten auf einem Gipfeltreffen in einer stürmischen Nacht vor Malta am 2./3. Dezember 1989 an Bord des sowjetischen Kreuzfahrtschiffes »Maxim Gorki« der letzte KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow und der damalige US-Präsident Georg W. Bush sen. Der Ort war bewusst gewählt: In Malta hatten sich Roosevelt und Churchill im Februar 1945 zwecks Absprache für die Verhandlungen mit Stalin getroffen. Nun äußerte Gorbatschow auf der gemeinsamen Pressekonferenz: »Die Welt verlässt eine Epoche und betritt eine andere. Wir befinden uns am Anfang eines langen Weges in eine friedliche Ära. Gewaltandrohung, Misstrauen, psychologischer und ideologischer Kampf sollten der Vergangenheit angehören.« Bush sagte: »Wir können einen dauerhaften Frieden verwirklichen und die Ost-West-Beziehung in eine dauerhafte Zusammenarbeit umwandeln.« Schöne Worte ohne Bestand, wie sich alsbald erweisen sollte. Die Weltordnung von Jalta und Potsdam hatte sich erledigt. Und auch die Idee der KSZE erlosch alsbald.

Der Kreis hatte sich geschlossen von der Potsdamer Konferenz der »Großen Drei« und dem »Seasick Summit« (Gipfeltreffen der Seekranken), wie Journalisten wegen des aufgepeitschten Mittelmeers das Treffen von Malta 1989 nannten, was im Nachhinein als ein starkes Symbol für die folgenden stürmischen Jahre Weltpolitik gelten kann.

Der Berliner Historiker Dr. Stefan Bollinger ist Mitglied der Historischen Kommission der Linken und der Leibniz-Sozietät.

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