Sly & and the Family Stone: Eine säkulare Anrufung

Garagensoul trifft Gospel: Ein frühes Konzert von Sly & and the Family Stone

  • Benjamin Moldenhauer
  • Lesedauer: 3 Min.
Er galt als das erste schwarzen musikalische Genie im Pop: Sly Stone, hier 1973 in London.
Er galt als das erste schwarzen musikalische Genie im Pop: Sly Stone, hier 1973 in London.

In seiner Dokumentation »Sly Lives!« rekonstruiert Regisseur und Schlagzeuger Questlove Leben und Werk des Produzenten, Sängers und Multiinstrumentalisten Sly Stone als das Werk des ersten schwarzen musikalischen Genies im Pop, das zur Projektionsfläche wurde. Und daran kaputtgegangen ist: erst sehr viel Kokain, dann Rückzug, Verschwinden.

Stone, der 1943 als Sylvester Stewart in Texas geboren wurde, war einer der Erfinder des Funk und Leader der sechsköpfigen Band Sly & the Family Stone, mit der er Wesentliches zur Politisierung des Pop und zur Elektrifizierung der Black Music beitrug. Die Geschenke, die Sly Stone bis zu seinem Tod im Juni dieses Jahres der Popmusik gemacht hat, sind – das macht »Sly Lives!« klar – groß und zahlreich.

Umso berührender ist es heute, eine der ersten erhaltenen Live-Aufnahmen eines Konzerts von Sly & the Family Stone zu hören. »The First Family: Live at the Winchester Cathedral 1967« dokumentiert ein Konzert ein Jahr nach der Bandgründung und zwei vor dem Durchbruch, der 1969 mit dem dritten Album »Stand« einherging. Die Musik wirkt, als würde sie von einer Band gespielt, die gerade sozusagen Anlauf nimmt, deren Mitglieder aber trotzdem schon aufeinander eingestellt und musikalisch auf magische Weise miteinander verbunden sind.

Nur ein einziger Song ist eine Eigenkomposition, der Opener »I Ain’t Got Nobody (For Real)«, der später dann auf dem zweiten Album »Dance to the Music« zu hören sein sollte. Die übrigen neun Stücke sind Cover von zeitgenössischen Soul- und R&B-Titeln und kaum Funk. Das ist zuerst einmal brillantes Handwerk. Und geht darüber hinaus, immer wieder dann, wenn die Band es schafft, zumindest aus heutiger Perspektive totgenudelten Stücken wie zum Beispiel Otis Reddings »I Can't Turn You Loose« eine immense Energie abzuringen.

Was man gerade in den Songs, die die Sechs-Minuten-Grenze reißen, hören kann, ist die religiöse Fundierung der Musik von Sly & the Family Stone wie auch der Black Musik im Gesamten vor Hip-Hop. Exakte Bläserlinien, treibend-hüpfender Bass und ein überschießendes, gleichfalls exaktes Schlagzeugspiel sind das eine, die Basis von all dem aber ist nicht allein Instrumentenbeherrschung, Talent oder gar so etwas wie Genie, sondern eine sich in der Tradition, in der diese Songs stehen, ausdrückende Spiritualität: in den spirituellen Liedern der Sklaven und ihren Worksongs, im frühen Jazz und vor allem im Gospel und damit auch in der Church of God in Christ, der Gemeinde, in der Sly Stone aufgewachsen ist.

Der Motown-Klassiker »Baby I Need Your Loving« bringt das, was Sly & the Family Stone mit ihren Instrumenten und Stimmen bei sich und bei ihren Zuhörer*innen auslösen konnten, am schönsten auf den Punkt. Über acht Minuten steigert sich das Stück in drei Anläufen zu einer Art säkularen Anrufung, und das lautstark präsente Publikum verhält sich weniger wie auf einem Pop-Konzert, sondern wie während eines Gospel-Gottesdienstes. Da ist es dann auch ganz egal, dass die Soundqualität nicht ideal ist. Das Schlagzeug und die Bläser sind sehr laut, die Stimme klingt wie aus der Ecke des Raums gesungen. Das ergibt eine Rauheit, die der Musik von Sly & the Family Stone hier etwas Unbehauenes verleiht, in Abgrenzung zu dem Studio-Perfektionismus der Alben: Garagen-Soul.

Sly & The Family Stone: »The First Family: Live at the Winchester Cathedral 1967«(High Moon /Membran)

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