- Kultur
- Nietzsche-Jahr 2025
Etwas genauer, bitte
Ein Analytiker oder Apologet der Macht? Ein kleiner Rückblick auf das Nietzsche-Jahr
Hätten Sie’s gewusst? 2025 war auch ein Friedrich-Nietzsche-Jahr. Denn der Philosoph hatte am 25. August seinen 125. Todestag. Er bleibt eine der kontroversesten Figuren der Geistesgeschichte. Rechte wie Linke haben sich auf ihn berufen oder ihn verdammt – es gibt wohl so viele Nietzsche-Lesarten wie Nietzsche-Leser*innen. Angesichts der leidenschaftlichen Polemiken der Vergangenheit verwundert es, dass Nietzsche dieses Jahr in der linken Presse kaum ein Thema war.
Dabei hat die Linke hier einiges aufzuarbeiten – nur selten wurde eine sorgfältige, um wirkliches Verständnis bemühte Lektüre betrieben. Im »nd «vom 2.6.2025 heißt es in einem Artikel über den Philosophen Gerd Irrlitz: »In der DDR jedoch gab es einen destruktiven Streit in der Kulturpolitik, ob Bloch als Marxist gelten und man Texte von Nietzsche drucken durfte. Auch in diesen Auseinandersetzungen erwies sich Irrlitz als unerschrockener Aufklärer, der mahnte, der Marxismus dürfe sich nicht wie eine Gouvernante aufführen, die nur darauf sehe, dass sich das Kindchen Marxismus kein Schleifchen schmutzig mache.«
Mit Nietzsches inhaltlicher Substanz setzten sich viele Zeitunungen gar nicht erst auseinander. Die »FAZ« hat am 26.8. nur zu berichten, dass der Nietzsche-Nachlass in Weimar zum Weltdokumentenerbe erklärt wurde. In der »Zeit« erklärt Elisabeth von Thadden am 16.9., dass Trump und Putin keine Nihilisten im Sinne Nietzsches seien, weil sie sich ja auf höhere Werte und Gott berufen würden. Die »Frankfurter Rundschau« vom 5.8. weiß zu erzählen, dass Nietzsche nicht der einzige Philosoph war, der die Berge liebte.
Ausführlicher ist nur die »Welt« vom 4.10. Sie berichtet vom Nietzsche-Kolloquium in Sils Maria in der Schweiz, wo Nietzsche lange Zeit den Sommer verbrachte. Diese Veranstaltung beschäftigte sich dieses Jahr mit dem Thema »Gerechtigkeit und Gewalt«. Nietzsche, so sagte der Historiker Thomas Maissen auf dem Kolloquium, habe Aggressionen durchaus begrüßt – etwa bei Napoleon, von dem er eine »Vermännlichung Europas« erhoffte.
Andere Beiträge des Kolloquiums führen gar heutige faschistische Nietzsche-Verehrer wie Alexander Dugin als legitime Erben an. Immerhin wurde andererseits die Frage gestellt, ob Nietzsche ein Analytiker oder ein Apologet der Macht gewesen sei. Seine Kritik der Rechtsgleichheit im Rahmen realer Ungleichheit wurde sogar in die Nähe der Marx’schen Kritik des bürgerlichen Rechts gerückt und angedeutet, es könne bei Nietzsche auch eine Perspektive jenseits von bürgerlichem Recht und purer Gewalt geben.
Ein gravierendes Problem beim Umgang mit Nietzsche ist die allzu wörtliche Interpretation. Es entgeht vielen Leser*innen, dass er oft mit Sarkasmus oder Persiflage vorgeht oder bewusst widersprüchlich argumentiert. Seine Unterscheidung von Herrenmoral und Sklavenmoral ist nicht als Parteinahme für die Herren zu lesen – vielmehr sind Herren und Sklaven zwei Seiten einer Medaille, wie auch Gilles Deleuze ausgeführt hat.
Hier könnte die Linke einiges lernen, zum Beispiel dass die Art und Weise, Politik zu machen, nicht gleichgültig ist. Befreiungsversuche schlagen in neue Herrschaft um, wenn der Kampf um politische Veränderung nicht mit dem Kampf um emanzipatorische Selbstveränderung einhergeht – ein Thema, das die neben Marx und Freud auch durch Nietzsche inspirierte Kritische Theorie immer beschäftigt hat: »… die Gerechtigkeit muss in allen größer werden, der gewalttätige Instinkt schwächer«, heißt es bei Nietzsche in »Menschliches, Allzumenschliches«, Aphorismus 452.
Innerhalb der linken Presse behandelte nur die »Junge Welt« Nietzsche intensiver. Ingar Solty nahm Nietzsches Todestag in einem zweiteiligen Artikel zum Anlass, ihn nicht einfach zum Reaktionär zu erklären, sondern auch die Frage zu stellen, warum er Linke immer wieder fasziniert habe. Er kommt zu dem Ergebnis, Nietzsche habe sich zwar aufklärerisch und nonkonformistisch gegeben, doch die Gattungsemanzipation widerrufen und außerdem bei randständigen linken Intellektuellen die Illusion geschürt, sie selbst seien das revolutionäre Subjekt und nicht etwa die ins System integrierte Arbeiterklasse.
An einigen Stellen müsste aber genauer hingeschaut werden, um Nietzsche gerecht zu werden. Solty erklärt Nietzsche etwa zum Denker mit strikt binärem Geschlechterbild. Das wird zum einen mit Zitaten aus »Also sprach Zarathustra« belegt, obwohl das ein belletristisches Werk ist und die angeführten Stellen bestimmten Rollen in den Mund gelegt werden. Zum anderen zitiert Solty zu diesem Thema aus Aphorismus 362 (»Unser Glaube an eine Vermännlichung Europas«) der »Fröhlichen Wissenschaft«. Dort wird die Hoffnung geäußert, durch das Vorbild Napoleons werde in Europa »der Mann« wieder über den »Kaufmann und Philister« siegen. Interessanterweise zitiert Solty hier dieselbe Aussage zu Napoleon, die auch auf dem Kolloquium in Sils Maria ein Thema war und von der »Welt« angeführt wurde. In beiden Fällen wird die wörtliche Interpretation nicht infrage gestellt.
Dieser Aphorismus wird jedoch von zwei anderen Aphorismen eingerahmt, aus denen gerade die soziale Konstruiertheit von Geschlechterrollen folgt. In Aphorismus 361 geht es um die Beobachtung, dass typische Eigenschaften von Schauspielern gerade bei unterdrückten Gruppen ausgeprägt seien, da diese darauf angewiesen seien, sich verstellen zu können. Genannt werden arme Leute, Juden und – Frauen.
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In Aphorismus 363 geht es um das männliche und das weibliche Verständnis von der Liebe. Der Mann will »Hingabe«, die Frau, von Nietzsche »das Weib« genannt, will sich »hingeben« – und Männer, die das Bedürfnis haben, sich hinzugeben, sind keine Männer, denn das führe zu ihrer Versklavung.
Dieses Bedürfnis nach der Selbsthingabe hat Nietzsche aber gerade (in Aphorismus 361) als Produkt sozialer Herrschaftsverhältnisse entlarvt. Das gilt logischerweise dann auch für den männlichen Anspruch auf Hingabe der Frau – und Männer, die »weiblich« fühlen, sind keine Männer, weil sie der sozialen Rolle, die von ihnen erwartet wird, nicht entsprechen und ihre Machtposition verlieren. In diesem Rahmen erscheint Aphorismus 362 in einem anderen Licht: Napoleon ist es zu verdanken, dass »der Mann« sich in ungeschminkter Brutalität zeigt und damit die Wahrheit über seine Zurichtung zum Krieger deutlich wird.
Hier zeigt sich, dass einzelne Aussagen Nietzsches nicht ohne Weiteres in die eine oder andere Richtung zu »überführen« sind. Bei der Lektüre mehrerer Aphorismen im Zusammenhang ergeben sich überraschende neue Lesarten. Die Aussagen widersprechen sich, Nietzsche verwirrt bewusst, um seine Leser*innen zum Selbstdenken anzuregen und scheinbare Selbstverständlichkeiten zu erschüttern. Somit ist Soltys Urteil, Nietzsche sei ein Rechter gewesen, der im 20. Jahrhundert von Intellektuellen als linker Vordenker missverstanden worden sei, vorschnell.
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