- Politik
- 80 Jahre Hiroshima
Atombombeneinsatz: Die Illusion, dass Ärzte helfen
Bis heute wäre nach Explosion von Nuklearwaffen medizinische Versorgung der Opfer unmöglich
Bis zum Ende des Jahres 1945 starben mehr als 200 000 Menschen infolge der Abwürfe von zwei Atombomben über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August durch die US-Luftwaffe. Wie alle anderen Gebäude waren auch die Krankenhäuser zerstört, das medizinische Personal zum großen Teil tot. Es war eine Katastrophe, in der selbst elementarste Versorgung unmöglich wurde. Die Überlebenden litten unter unvorstellbaren Schmerzen und Ängsten – unbehandelt, sterbend, oft unwissend über das Schicksal ihrer Familien oder Freunde.
Er habe Hunderte Menschen gesehen, die »Qualen litten und keinerlei medizinische Hilfe« bekommen hätten, berichtete Terumi Tanaka von seinen Erlebnissen am 9. August 1945 in Nagasaki anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises 2024 an Nihon Hidankyo, die Organisation der Hibakusha, der Überlebenden. So etwas dürfe sich nie wiederholen, so Tanaka, der das atomare Inferno wie durch ein Wunder überlebt hatte.
Gerade das Wissen, dass medizinische Hilfe nach einem Atomwaffeneinsatz nicht leistbar ist, war 1980 der Gründungsimpuls für die »Internationalen Ärzt*innen zur Verhütung des Atomkrieges« (IPPNW). Mediziner*innen wollten nicht länger darüber schweigen, was geschehen würde, sollte auch nur eine einzige dieser Waffen zum Einsatz kommen. Mitten im Kalten Krieg machten sie auf den Wahnsinn nuklearer Einsatzplanungen und die konkreten Folgen für die Menschen aufmerksam.
Das gleiche Bestreben hatte die Initiative in den 2010er Jahren. Drei internationale Konferenzen befassten sich mit den Folgen eines Atomwaffeneinsatzes – und stellten klar: Kein Gesundheitssystem der Welt, keine Organisation, kein Land könnte diesem Szenario angemessen begegnen. Diese Einsicht wurde zum zentralen Argument für den Atomwaffenverbotsvertrag, der 2017 von der Uno verabschiedet wurde und 2021 in Kraft trat. Für viele Hibakusha war das ein historischer Moment. Jahrzehntelang hatten sie berichtet, gewarnt, appelliert, – und gehofft, die Abschaffung der Atomwaffen noch selbst zu erleben.
Je mehr Atomwaffen als »klein« oder »taktisch einsetzbar« dargestellt werden, desto wahrscheinlicher wird ihr Einsatz – in der Annahme, die Folgen ließen sich handhaben.
Doch heute – 80 Jahre nach Hiroshima – scheint all das in Vergessenheit zu geraten. Wir debattieren über europäische Atomwaffen, jüngst forderte Unionsfraktionschef Jens Spahn eine stärkere deutsche Führung in dieser Frage. Einer Umfrage der »Zeit« vom Mai zufolge ist eine knappe Mehrheit der jungen Menschen unter 25 Jahren dafür, dass Deutschland eigene Atomwaffen beschafft.
Entsprechend werden auch die massiven Investitionen der Bundesregierung kaum kritisiert, die die Stationierung US-amerikanischer Atomwaffen in Deutschland aufrechterhalten sollen. Obwohl diese sogenannte nukleare Teilhabe voraussetzt, dass deutsche Pilot*innen im Ernstfall US-Atombomben einsetzen. Dafür übt die Bundeswehr jährlich mit anderen Nato-Staaten den Atomwaffeneinsatz beim Manöver »Steadfast Noon«. Um dies fortzuführen, wurden knapp zehn Milliarden Euro in neue F35-Kampfjets investiert, die für das Tragen der US-Atomwaffen zertifiziert sind. Zudem sollen die derzeit stationierten Atombomben durch eine modernisierte Version ausgetauscht werden, die als »zielgenauer« und »effektiver« gilt.
Das Wissen über die realen menschlichen und medizinischen Folgen eines Atomschlags wird hingegen nicht gefördert, es ist in der Öffentlichkeit weitgehend verloren gegangen. Das zeigen die im Oktober 2024 herausgegebenen Empfehlungen der Strahlenschutzkommission zur Vorbereitung auf einen Atomschlag in Deutschland, Artikel in Tageszeitungen, in denen Ratschläge für den Ernstfall gegeben werden, Gespräche über den Zustand der Bunker in Deutschland. All diese Beiträge suggerieren, ein Atomschlag sei zwar tragisch, aber irgendwie beherrschbar. Man spricht von Schutzräumen, Evakuierungsplänen, vom Umgang mit Massenkontamination. Tatsächlich aber würde ein Einsatz von Atomwaffen in einem dicht besiedelten Gebiet noch immer Hunderttausende Menschen töten – sofort oder qualvoll in den Tagen danach. Ohne Hilfe. Ohne Medikamente.
All das verschwindet aus dem Diskurs, weil man sich auf die Wirksamkeit nuklearer Abschreckung verlässt. Doch was, wenn sie versagt? Die Geschichte kennt etliche Momente, in denen nur das Bauchgefühl Einzelner und pures Glück eine atomare Eskalation verhinderten. Glück ist aber keine Sicherheitsstrategie. Und je mehr Atomwaffen als »klein« oder »taktisch einsetzbar« dargestellt werden, desto wahrscheinlicher wird ihr Einsatz – in der Annahme, die Folgen ließen sich handhaben.
Dass es an politischem Willen zur Auseinandersetzung fehlt, zeigt auch die Entscheidung der Bundesregierung im Mai dieses Jahres. Deutschland stimmte gegen eine Resolution der Weltgesundheitsversammlung, die eine neue Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO zu den gesundheitlichen Folgen von Atomschlägen ermöglichen sollte. Die Begründung: Budgetprioritäten. Das Geld dafür würde woanders benötigt. So argumentierten insbesondere Nato-Mitglieder sowie Russland und Nordkorea – im Gegensatz zu den 86 Staaten, die für die Resolution stimmten. Zudem nahm Deutschland im März erstmals nicht einmal mehr beobachtend an der Konferenz des Atomwaffenverbotsvertrags teil.
80 Jahre nach Hiroshima verweigert die Bundesregierung eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Folgen von Atomwaffenexplosionen und wendet sich von der nuklearen Abrüstung ab. 80 Jahre nach Nagasaki wurde ein Koalitionsvertrag beschlossen, in welchem die Vision einer atomwaffenfreien Welt fehlt. Die Stimmen der Hibakusha werden ignoriert. Dabei sind ihre Berichte von immenser Bedeutung. Denn noch immer gilt: Mediziner*innen können nach einem Atomschlag nicht helfen. Wer heute auf nukleare Abschreckung setzt, muss sich fragen lassen, ob er bereit ist, unsagbares hunderttausendfaches Leid für eine politische Strategie in Kauf zu nehmen. Allein basierend auf dem Glauben, dass das Glück uns nicht verlässt und das Schlimmste schon nicht eintrifft.
Dr. Angelika Claußen ist Ko-Vorsitzende der IPPNW – Internationale Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzt*innen in sozialer Verantwortung sowie von IPPNW Europa. Die Organisation ist Teil der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN), die 2017 den Friedensnobelpreis erhielt.
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