Großbritannien feiert 200 Jahre Schienenverkehr

1825 bestiegen Hunderte Menschen offene Waggons, die eine Dampflok von Shildon nach Stockton zog – Startsignal für Eisenbahnzeit und Massentourismus

  • Stefan Weißenborn
  • Lesedauer: 5 Min.
North Yorkshire Moors Railway: Führerstand der Schnellzugdampflokomotive Nr. 60007 »Sir Nigel Gresley«
North Yorkshire Moors Railway: Führerstand der Schnellzugdampflokomotive Nr. 60007 »Sir Nigel Gresley«

Eine verwunschene Landschaft zieht vor dem Zugfenster vorbei: knorrige Birken, zwischendrin schwarze nasse Flächen im Wald, braunes Gestrüpp, und war da nicht ein verfallenes Steinhaus? Man mag sich schaurige Wesen vorstellen, hier im Nationalpark North York Moors. Etwa die Barghests, Hunde mit glühenden Augen, wenn man Sir Arthur Conan Doyles »Hund von Baskerville«, wohl inspiriert von diesem Landstrich, gelesen hat. Und wer dann verspürt, den Kopf freizubekommen, hält sein Haupt einfach aus dem offenen Waggonfenster in den Fahrtwind und kann sich später schwarze Partikel aus dem Haar schütteln, die die Lok mit dem weißen Dampf an der Spitze des Zuges ausstößt.

Eine Fahrt mit der North Yorkshire Moors Railway – ab Pickering geht es los – ist keine gewöhnliche Fahrt. Trainspotter mit dicken Kameraobjektiven, meist ältere Herren, stehen am Gleisbett Spalier, und in den Waggons aus den 50ern (die in England hinreichend bekannte Dampflok »Bahamas« ist von 1934) sitzen neben Zugenthusiasten und Familienausflüglern auch Fans von »Harry Potter«, die sich in Stellung bringen, um schnell auf den Bahnsteig zu gelangen, als die Museumsbahn sich dem Bahnhof Goathland nähert. Hier stiegen im ersten Film die Schüler der Schule für Hexerei und Zauberei aus. Hogsmeade heißt der Bahnhof bei »Harry Potter«.

2025 in Nordengland mit einer Museumsbahn zu fahren, hat auch einen festlichen Beigeschmack. Denn ganz Großbritannien begeht in diesem Jahr ein Jubiläum. Auf Plakaten und Websites kann man Mottos lesen wie »200 Years of Train Travel since 1825« oder »A journey that transformed the world«, so ein Aushang am Bahnhof in Darlington. Wer von London über York in zweieinhalb Stunden stilecht mit dem Zug anreist, wandelt spätestens ab Darlington auf historischen Spuren. Denn es war die Stockton & Darlington Railway (SD&R), die vor 200 Jahren erstmals Passagiere an Bord nahm.

Die Bedeutung des Pioniertrips auf Gleisen kann kaum unterschätzt werden; für den Tourismus und auch die Industrialisierung bedeuteten die Ereignisse in Nordengland von damals einen entscheidenden Schub.

Am 27. September 1825 ging die Fahrt von Shildon über Darlington bis nach Stockton on Tees, rund 40 Kilometer mit maximal 25 Kilometern pro Stunde. Auf den 34 Waggons mussten sich die Passagiere ihren Platz mit der Ladung teilen. Sie saßen zwischen Kohle und Mehlsäcken. Und ein Dach gab es ohnehin nicht. Den Zug führte der später als der »Father of Railway« titulierte George Stephenson, der die eingesetzte »Locomotion No 1« selbst konstruiert hatte.

Mit der SD&R gelang Kohle schneller zum Hafen von Stockton. »Und viele Leute hatten erstmals jeden Tag frische Milch«, sagt Matthew Harrison, der als Volunteer für das Museum Locomotion in Shildon tätig ist, wo die »Locomotion No 1« dauerhaft ausgestellt ist. Sarah Price, Leiterin des Bereichs Lokomotiven im Museum, fügt hinzu: »Im viktorianischen England brach ein Eisenbahn-Boom aus. Durch die Eisenbahn wurde die Welt kleiner.« Für den Konstrukteur war die »Locomotion No 1« nur ein Zwischenschritt zu »The Rocket«, jener ebenfalls legendären Lok, die zwischen Liverpool und Manchester die Waggons auf der ersten Intercity-Verbindung der Welt zog, 1830 eröffnet.

Der Tourismus-Pionier Thomas Cook erkannte das Potenzial der Eisenbahnen und erfand die Pauschalreise. Er legte damit die Basis für den aufkommenden Massentourismus: Zwischen Leicester und Loughborough machte er 1841 den Passagieren für Fahrt, Snacks und Getränke erstmals einen Komplettpreis. Eine Gedenktafel am Bahnhof in Darlington fasst zusammen, was die Entwicklungen bedeuteten: »Bis 1850 erstreckte sich ein Eisenbahnnetz über Großbritannien und den größten Teil Europas, und der Schienenverkehr begann, Kontinente zu erschließen.«

Wer zu Fuß in Shildon und Umgebung unterwegs ist, erschließt sich dafür Eisenbahngeschichte, so hautnah wie kaum woanders möglich. Hier gilt es einige der ältesten Gebäude mit Eisenbahnbezug überhaupt zu bestaunen. »Cape to Cairo« steht an einem ägyptischen Restaurant, das schon 1825 als Gaststätte genutzt wurde: Am damaligen »Mansion’s Arm Inn«, aus heutiger Sicht so etwas wie die erste Eisenbahnkneipe der Welt, ging die Fahrt der »Locomotion No 1« los. Stephenson steuerte die Lok auch über die Skerne Bridge bei Darlington, diese ist die älteste Eisenbahnbrücke der Welt, die als solche noch genutzt wird, 1825 erbaut.

Ab dem Museum Locomotive führt ein Rundweg auch zu den Cole Drops aus den 1840er Jahren, eine steinerne Rampe mit Rundbögen zum Verladen von Kohle. Hier fuhren die Loks vor und wurden versorgt, Vorläufer der Tankstellen, wenn man so will. Von 1827 stammt das Soho Shed, die einstige Werkstatt gilt als der vielleicht älteste Lokschuppen der Welt. Ältestes Gebäude aber ist Kilburn’s Warehouse von 1826, hier lagerte Kohle und anderes Gut, es ist der Vorläufer moderner Güterterminals. Shildon, heutzutage ein verschlafener Ort, sollte zur »ersten Eisenbahnstadt« der Welt werden. Gegen 1890 hatte sich die Einwohnerzahl verachtzigfacht, Shildon war zum größten Rangierbahnhof des Vereinigten Königreichs avanciert.

Umstieg in den Zug: Zwischen Shildon und Darlington verkehrt die heutige Bishop Line. Hier ist man teils entlang des alten Gleisbetts unterwegs, wenn auch in modernen Zügen. Am Zwischenhalt Heighington wurde die in Newcastle gefertigte »Locomotive No 1« erstmals aufs Gleis gesetzt, und an der Station North Road steigt aus, wer das Museum Hopetown besuchen möchte, untergebracht in der einstigen Northroad Station von 1842, dem ältesten Bahnhofsempfangsgebäude der Welt. Pünktlich zum Jubiläumsjahr wurde die Renovierung des Museums abgeschlossen.

Seitdem entführt dort eine immersive Zeitreise in einem stilisierten Waggon, der die Passagiere ordentlich durchrüttelt, mit 3D-Leinwand und simuliertem Fahrtwind ins Jahr 1825 und eine unbestimmte Zukunft des Schienenverkehrs. Wer aber eine authentische Zugfahrt wie anno dazumal unternehmen möchte, kann am Locomotive-Museum für Train Rides an Bord eines Nachbaus von »The Rocket« gehen, der dafür vor dem Museum schon auf den Gleisen wartet.

Als die »Geburt der modernen Eisenbahn« feiert man in Darlington, in Shildon und anderen Orten das Jubiläum mit Sonderausstellungen, Lok-Paraden, Podiumsdiskussionen und Mitmach-Aktionen. Doch der Höhepunkt des Festivals sind die Demonstrationsfahrten einer Replika der berühmten »Locomotive No 1« am Jubiläumswochenende vom 26. bis 28. September in Shildon. Es ist kein Reenactment, und Passagiere dürfen nicht zusteigen. Es gehe darum, sagt Sarah Price, den Zuschauern zu vermitteln, »wie es damals ausgesehen haben könnte«, am 27. September 1825, vor 200 Jahren.

Tipps
  • Festival: Großbritannien feiert die Geburt der modernen Eisenbahn von März bis November 2025: www.sdr200.co.uk
  • Museum: »Locomotion« ist das Eisenbahnmuseum in der ersten Eisenbahnstadt der Welt, Shildon. www.locomotion.org.uk
  • Darlington: Neu gestaltetes Besucherzentrum, das die 200-jährige Geschichte und Bedeutung der Stockton & Darlington Railway mit interaktiven Ausstellungen, einem Spielplatz, 4D‑Erlebnis, Museum und Lokomotivwerk feiert und bewahrt. www.hopetowndarlington.co.uk
  • Historische Bahn: North Yorkshire Moors Railway, www.nymr.co.uk

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