Bürgerräte: Beteiligung oder Teilhabe-Theater?

In Brandenburg soll es bald einen Bürgerrat zum Thema ländliche Entwicklung geben

Ulrike Liedtke (SPD), Landtagspräsidentin von Brandenburg, möchte Bürgerräte in Brandenburg.
Ulrike Liedtke (SPD), Landtagspräsidentin von Brandenburg, möchte Bürgerräte in Brandenburg.

Als »große Chance für mehr Demokratie« werden sie manchmal in Zeitungen beschrieben, wenigstens aber als nützliches Instrument für mehr Demokratiebewusstsein bei den Menschen. Andere meinen, sie seien »überflüssig«, »Symbolpolitik« oder »Mitmachtheater«. Gemeint sind Bürgerräte in Deutschland. Auch in Brandenburg soll es nach dem Willen von Landtagspräsidentin Ulrike Liedtke (SPD) bald einen Bürgerrat geben, »am liebsten zu Fragen der Entwicklung des ländlichen Raums«, wie sie »nd« im Gespräch verrät. Sie wolle damit »Wissen und die Erfahrungen der ›Alltagsexpertinnen und -experten‹ nutzen«, so erklärte sie im Juli ihre Initiative.

Liedtke beschreibt damit den eigentlichen Kern der Idee von Bürgerräten. Über sie sollen Perspektiven »normaler« Bürger*innen stärker in politische Entscheidungsprozesse fließen. Ein Werkzeug für mehr Teilhabe also. Dabei werden Teilnehmende mittels Losverfahren und unter Berücksichtigung von Alter, Geschlecht oder Bildung bestimmt, um einen vielfältigen Querschnitt der Bevölkerung abzubilden. In einem durch Fachleute moderierten Verfahren werden dann zu einem Thema Vorschläge erarbeitet, die im besten Fall von den Entscheidungsträgern gehört und umgesetzt werden.

In den vergangenen Jahren wurde das Konzept beliebt, auf Landesebene wurden Bürgerräte in Thüringen, Berlin oder im Saarland eingesetzt. Dort etwa beschäftigte er sich mit »Klimaschutz im Saarland« und sollte erarbeiten, wie das Saarland seine Klimaschutzziele sozial-, wirtschafts- und ökologisch verträglich erreichen kann. Das saarländische Parlament soll sich im Oktober mit Vorschlägen befassen.

Oft jedoch bleibt der Prozess an dieser Stelle stehen: Die Ergebnisse werden im Parlament diskutiert und dann oft genug ignoriert. Bekanntestes Beispiel ist der Bürgerrat auf Bundesebene, der sich Anfang 2024 mit Ernährung beschäftigte: Von den neun erarbeiteten Vorschlägen wurde bisher nichts umgesetzt. Das Gutachten liegt seither im Ernährungsausschuss, das letzte Fachgespräch dazu fand im November 2024 statt.

Auch die Wirkung von kommunalen Bürgerräten, die sich mit ganz konkreten Projekten beschäftigten, bleibt oft sehr unklar. Das geht zum Beispiel aus der Bürgerräte-Datenbank des Vereins »Mehr Demokratie« hervor. Über den Bürgerrat im brandenburgischen Biesenthal 2021 zum Stadtwald heißt es unter dem Punkt »Ergebnisse und Wirkung« etwa: »Die Ergebnisse wurden der Stadtverordnetenversammlung übergeben.« Im benachbarten Eberswalde, wo 2022 ein Bürgerrat Empfehlungen für die Stadtentwicklung erarbeitete, steht: »Der Wunsch der Teilnehmenden wird deutlich, dass die Stadt die Empfehlungen in interne Abstimmungsprozesse aufnimmt.« Und zum Zukunftsrat in Ludwigsfelde heißt es unter dem Punkt »Sind die Empfehlungen übergeben worden?« schlicht: »Ja«.

Das sei dann auch das »Eigentor« der Politik, »wenn die Ergebnisse von Bürgerräten ins Leere laufen«, sagt Marie Jünemann vom Verein »Mehr Demokratie«, der viele solche Initiativen begleitet. Auch Parlamentspräsidentin Ulrike Liedtke hat »Mehr Demokratie« beraten. Jünemann verweist auf eine erfolgreiche Initiative in Werder zum dortigen Baumblütenfest, das zuletzt Probleme mit Lärm und Belästigungen bereitete. Das vom Rat erarbeitete Konzept sei schließlich von der Stadtverordnetenversammlung fast einstimmig beschlossen worden. So seien Bürgerräte als »besondere Beteiligungsverfahren« sehr wichtig für die Demokratie. Denn damit »bekommt die Politik zu einer konkreten Fragestellung eine direkte Rückmeldung aus der Mitte der Gesellschaft«. Man beteilige damit Menschen, die sich sonst nicht einbrächten: »Jung und Alt, Arm und Reich, Stadt und Land: Ein Mini-Brandenburg kommt im Bürgerrat an einen Tisch«, so laut Jünemann das Potenzial von Liedtkes Vorhaben.

Um Frust der Bürger*innen zu vermeiden, müsse eben auch von Anfang an klar sein, wer sich wo mit den Ergebnissen befasst und dass diese auch für Gesetze und Verfahren genutzt werden. »Die Vorschläge müssen von der Politik ernsthaft als Mehrwert verstanden werden. Es muss ein Interesse an neuen Perspektiven bestehen.« Hier liegt für Kritiker*innen die Gefahr: dass ein förderliches Instrument zur Stärkung des Demokratiebewusstseins zum Teilhabe-Theater von Politiker*innen wird, nur um dann weiter Politik zu machen wie bisher.

Ulrike Liedtke geht davon aus, dass der Beschluss zur Einsetzung des Bürgerrats im September kommt. Sie sagt, das Gegenteil sei die Hauptmotivation ihrer Initiative: »Menschen, die ausgewählt werden, kommunizieren das an Familie und Freunde und bringen auch deren Perspektiven ein. Dadurch ist man Teil von etwas Besonderem.« Sie sehe es wie Politikwissenschaftler Herfried Münkler: »Bürgerräte werden zur Reparatur betrieben, wo Politik alleine nicht weiterkommt. Es geht darum, aus Best-Practice-Beispielen direkt aus der Bevölkerung etwas zu entwickeln, was den Menschen konkret weiterhilft.«

Dabei sollte die Fragestellung, mit der sich ein Bürgerrat beschäftigt, möglichst konkret sein. Das sei der Fehler auf Bundesebene gewesen: Das große Thema Ernährung sei zu weit, zu unkonkret gewesen. Auch bei »Mehr Demokratie« sieht man das als ausschlaggebend. Menschen müssten das Gefühl haben, zu einer bestimmten Sache aus ihrer Lebensrealität wirklich angehört zu werden. Im besten Fall, so Ulrike Liedtke, solle es daher in Brandenburg um bestimmte Aspekte der Entwicklung im ländlichen Raum gehen. Dort, wo die meisten Brandenburger*innen leben.

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