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Anti-Antisemitismus: Das hehre Ziel als Motor des Autoritarismus
»Zeit zu reden« diskutiert die Kriminalisierung der Palästina-Solidarität in Deutschland
Zum ersten Mal in einem »Moment der Erleichterung« spreche Kristin Helberg an diesem Abend zum Thema ihrer Gesprächsreihe: dem israelisch-palästinensischen Konflikt und dem Krieg in Gaza. 20 Israelis wurden von der Hamas freigelassen, rund 2000 Palästinenser*innen aus den israelischen Gefängnissen entlassen. Humanitäre Hilfe erreicht immer mehr Menschen in Gaza. Israel und Hamas haben sich auf einen Waffenstillstand geeinigt.
Es ist Donnerstagabend in Berlin-Neukölln. Im Kulturzentrum »Spore Initiative« findet die monatliche Reihe »Zeit zu reden« der Journalistin und Nahost-Expertin Helberg statt. Wie so oft ist das Podium prominent besetzt, der Saal rappelvoll. Thema des Abends ist die Kriminalisierung der Palästina-Solidarität.
Wenige Stunden zuvor haben UN-Menschenrechtsexpert*innen eine Kritik zur Kriminalisierung der Palästina-Solidarität in Deutschland veröffentlicht. »Wir sind alarmiert über die anhaltende Polizeigewalt und die offensichtliche Unterdrückung von Solidaritätsaktionen für Palästina durch Deutschland«, heißt es in der Stellungnahme. Darüber diskutieren bei »Zeit zu reden« der Antisemitismusforscher Peter Ullrich, die Juristin Natali Gbele, der Kinderarzt Qassem Massri und die Sprachwissenschaftlerin Sabine Schiffer. Gbele und Massri sind zudem palästinensische Aktivist*innen. Gbele ist in Haifa geboren, Massri in Gaza.
Gewalttätige CDU-Traditionslinie
Für Massri, der 2019 die Organisation »Palästina spricht« mitgegründet hat, ist die Repression gegen Palästina-Solidarität in Deutschland zwar grundsätzlich nichts Neues. Wohl aber hätten sich Intensität und ihre politische Begründung seit 2023 verändert. So spricht er etwa über die jährlich in Berlin stattfindenden Nakba-Demonstrationen, bei denen an die hunderttausendfache Vertreibung und Ermordung von Palästinenser*innen durch die Staatsgründung Israels 1948 erinnert werden soll. Die Demonstrationen seien schon vor 2023 regelmäßig verboten worden, weil sie laut Massri Bilder erzeugten, die es hier nicht geben solle. »Schon 2022 wurden die Leute verhaftet.« Doch nach dem 7. Oktober 2023 habe die Gewalt vonseiten der Polizei massiv zugenommen. Das liege auch am Politikwechsel in Deutschland – mit einer Traditionslinie der CDU, »die sehr gewalttätig ist«.
Zustimmung bekam Massri in diesem Punkt vom Soziologen Peter Ullrich, der am Beispiel Berlins erklärte: »Das ist ganz klar eine politische Vorgabe und Linie, für die Bürgermeister Kai Wegner steht.« Dies sei durchaus erstaunlich, da die Polizei als äußerst schwer zu beeinflussende Behörde gelte und sie schließlich auch anders, deeskalierend handeln könne.
Daher sei man unter anderem den Weg über Drohungen gegangen: Bei den palästinasolidarischen Protesten an den Berliner Hochschulen etwa gab es angeblich Drohungen, Mittel zu kürzen, wenn die Proteste nicht polizeilich aufgelöst würden. Daraufhin kam es zum Beispiel im Fall eines 2024 kurzzeitig besetzten Gebäudes der Humboldt-Universität zu massiver Polizeigewalt. Damals wurde sogar ein Journalist von Beamten verprügelt.
In Deutschland sei es sehr einfach, unter Berufung auf ein hehres Ziel – hier der angebliche Kampf gegen Antisemitismus – Grundrechte wie die Versammlungs- und Meinungsfreiheit einzuschränken. Etwas, das Ullrich »autoritären Anti-Antisemitismus« nennt: »Politisch-moralische Fragen werden in ein Ordnungsproblem umdefiniert«, das die Polizei dann kurzerhand wegräume. So aber lasse sich keine gesellschaftliche Debatte führen, in der diese Fragen wirklich verhandelt würden.
Dass staatliche Behörden immer autoritärer auftreten – so der Konsens im Plenum –, sei auch Ergebnis fehlender Machtkritik und -analyse weiter Teile journalistischer Medien in Deutschland. Der »Tagesspiegel« wurde mehrfach als besonders negatives Beispiel genannt. Gerade in Bezug auf arabische Länder beobachte die Sprachwissenschaftlerin und Medienpädagogin Sabine Schiffer diese Entwicklung in Deutschland, vor allem seit der Iranischen Revolution 1979.
»Das ist antiislamischer Rassismus. Anders kann ich mir nicht erklären, wie wir dieses Abschlachten zwei Jahre lang hingenommen haben.«
Sabine Schiffer Medienpädagogin
Seitdem hätten sich die Erklärungen für Missstände, Menschenrechtsverletzungen, Konflikte und Kriege stets vereinfacht. Statt Entwicklungen etwa auf geopolitische Dynamiken und Durchsetzung nationaler Interessen hin zu untersuchen, habe sich die Erzählung etabliert, das alles habe einfach mit dem Islam zu tun. »Das ist antiislamischer und antiarabischer Rassismus«, sagt sie. »Und Palästinenser werden auch darauf reduziert.« Anders könne sie sich nicht erklären, »wie wir dieses Abschlachten zwei Jahre lang hingenommen haben«. Daher wünsche sie sich vor allem eine Presse, die völkerrechtlich besser geschult ist.
Mit Blick auf den derzeitigen Prozess um Donald Trumps sogenannten Friedensplan sagte sie: »Wenn man hier mit Machtanalyse ansetzen würde, müsste sofort klar sein: Das geht gar nicht.« Denn dann würde sofort deutlich werden, dass es nach diesem Plan zu einer »Infantilisierung der Palästinenser*innen« komme: Ohne jegliche Mitsprache setze man ihnen mit Menschen wie Tony Blair Europäer und westliche Politiker*innen vor, die die Sache für sie in die Hand nehmen sollen. Und das klinge dann doch schon sehr nach »White Man’s Burden«, also nach der imperialistischen Vorstellung, dass sich der zivilisierte weiße Mann um die Unzivilisierten des Globalen Südens kümmern müsse, da sie dies selbst nicht könnten.
Wie schließlich staatlicher Autoritarismus, Berichterstattung und auch das Handeln gesellschaftlicher Akteure für Palästinenser*innen ein Klima von Verfolgung und Repression schaffen, veranschaulichte die palästinensische Juristin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der LMU München, Natali Gbele, anhand ihrer eigenen Erfahrungen in Deutschland. Nachdem sie eine juristische Einordnung des Falles der von israelischen Soldat*innen 2022 getöteten palästinensischen Journalistin Shireen Abu Akleh veröffentlicht hatte, habe eine proisraelische Gruppe über Jahre ihren Arbeitgeber, aber auch Kooperationspartner und Veranstalter mit der Forderung angeschrieben, sie zu kündigen und auszuladen oder anderweitig zu sanktionieren. Der stete Vorwurf: Sie sei eine antisemitische Radikale.
Zwei Jahre lang habe die Wissenschaftlerin keine Beiträge veröffentlicht und den Vorsitz eines Vereins abgegeben, in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit würde dadurch abnehmen. Doch solche Erfahrungen als Palästinenserin würden nicht ernst genommen oder gehört, auch nicht in der deutschen Medienlandschaft. Dort dominiere, so betonen es die Diskussionsteilnehmer*innen öfter, noch immer das Bild einer einheitlich radikalen, antisemitischen Bewegung.
Die eigene Identität in der Unterdrückung Palästinas
Die »soziale Bewegung, die als Palästina-Solidarität bezeichnet« wird, sei indes viel diverser als medial dargestellt, so Helberg. Darin sind sich auch die Podiumsgäste einig. Massri sagt, die Bewegung sei seit dem 7. Oktober 2023 »deutlich größer und jünger« geworden. Dass die propalästinensischen Proteste seit dem 7. Oktober in der Hauptstadt so »bunt« geworden seien, führt Massri darauf zurück, dass viele verschiedene Menschen ihre Identität in der Unterdrückung der Palästinenser*innen fänden.
Gbele erklärt sich die Diversität der Palästina-Solidarität historisch. Da viele Palästinenser*innen durch Flucht und Vertreibung an verschiedenen Orten aufgewachsen sind, bringen sie »unterschiedliche Perspektiven« in die Bewegung ein. »Ich finde, wir sollten diese Unterschiede feiern«, sagt sie. Zum Thema heterogene Bewegung verweist der Protestforscher Ullrich darauf, wie viele jüdische Gruppen, Student*innen und Antirassist*innen in den vergangenen zwei Jahren Teil der Palästina-Solidarität geworden sind.
Die wahrscheinlich größte Differenz zwischen den Sprecher*innen zeigt sich an diesem Abend in der Frage von Begrifflichkeiten. So sind sich Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen einig, dass Rassismus bei der Kriminalisierung der Palästina-Solidarität eine entscheidende Rolle spielt. Die Aktivist*innen Gbele und Massri heben hervor, dass es sich dabei um eine spezifische Form, den antipalästinensischen Rassismus handele. »Dieser Rassismus trifft Menschen, die als Palästinenser gelesen werden«, so Massri.
Israel-Hass und Antisemitismus
Die Medienpädagogin Schiffer forscht bereits seit Anfang der 90er zu Rassismus aus linguistischer Perspektive. Mithilfe rassistischer Narrative werde die »Entmenschlichung vorbereitet«, sagt sie. Seit dem 11. September 2001 werde zudem der Islam politisch und medial zunehmend problematisiert, Geopolitik stünde stärker im Hintergrund. »Es fehlt die Machtanalyse, man sieht nicht mehr den großen Zusammenhang«, sagt sie in Bezug auf globale Kriege. Israel-Hass und Antisemitismus seien zudem so oft gleichgesetzt worden, dass sie Antisemitismus-Vorwürfe instrumentalisiert sieht.
Antisemitismusforscher Ullrich weist darauf hin, dass nicht nur Antisemitismus und Rassismus den Blick auf den israelisch-palästinensischen Konflikt prägen, sondern auch Nationalismus und ökonomische Interessen, genau wie die »deutsche Besessenheit mit Israel«. Palästinenser*innen würden dabei häufig mit Nazis gleichgesetzt. Er wünsche sich, dass man sich von der Vorstellung löse, dass es eine Steigerung der Kritik an Israel gebe, die irgendwann antisemitisch sei.
Schiffer meint, es würde helfen, wenn der Begriff »israelbezogener Antisemitismus« verschwinde. Als das Wort das erste Mal fällt, zuckt der Kinderarzt aus Gaza, Qassem Massri, sichtlich von seinem Stuhl auf. Er sagt, das sei eine Art körperlicher Reflex, den er in Deutschland entwickelt habe. Publikum und Podium schmunzeln kollektiv.
Ob es für Palästinenser*innen in Deutschland eigentlich noch Hoffnung gebe, dass sich am Zustand Palästinas, am Verhalten Deutschlands irgendwann noch etwas ändert? Eigentlich will Qassem Massri das mit Nein beantworten. Doch dann sagt er: »Diese Frage ist aus Sicht von Gaza ein Luxus. Diese Frage stellt sich dort im Moment nicht. Sie stehen jeden Tag auf und machen weiter.« Und egal, wie schlimm die Dinge kämen, seine Eltern würden ihm immer wieder sagen: »Es existiert keine Zukunft, in der Palästina nicht frei sein wird. Wer bin ich da, die Hoffnung aufzugeben?«
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