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Keine Anklage gegen durch Polizeischüsse schwer Verletzten
Staatsanwaltschaft Detmold verzichtet auf Strafverfolgung von Bilel G. unter anderem wegen Angriffs auf Polizisten
Die Staatsanwaltschaft Detmold hat entschieden, keine Anklage gegen einen heute 21-Jährigen wegen Taten am 3. Juni 2023 zu erheben. Gegen ihn war wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, versuchter gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil mehrerer Polizeibeamt*innen, tätlichem Angriff auf diese sowie weiterer Vergehen ermittelt worden. Laut einer Mitteilung vom Mittwoch sieht die Behörde zwar einen »erheblichen Unrechtsgehalt« der von Bilel G. begangenen Taten.
Weil der junge Mann aber aufgrund dessen, dass Polizisten an jenem Tag auf ihn 34 Schüsse abgegeben hatten, schwer verletzt wurde und heute querschnittsgelähmt ist, sieht sie aber von einer Strafverfolgung ab. »Vor dem Hintergrund dieser gravierenden gesundheitlichen Beeinträchtigung wären strafrechtliche Sanktionen – insbesondere unter Berücksichtigung des im Jugendstrafrecht vordergründig zu beachtenden Erziehungsgedankens – offensichtlich verfehlt und pädagogisch nicht mehr sinnvoll«, erklärte die Staatsanwaltschaft.
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Was in der Sommernacht geschah, ist bis heute umstritten. Bilel G. aus Herford war ohne Führerschein mit dem Fahrzeug seines Vaters unterwegs, als einer Zivilstreife nahe Bad Salzuflen der Audi ohne Licht auffiel. Statt anzuhalten, ergriff der damals 19-Jährige die Flucht. Nach Darstellung der Ermittlungsbehörden raste er mit bis zu 160 Kilometern pro Stunde durch Ortschaften und beschleunigte auf Landstraßen auf bis zu 200 Kilometer pro Stunde.
Die Verfolgungsjagd endete in einer Sackgasse in Bad Salzuflen. Dort wendete der junge Mann und fuhr nach Angaben der Polizei auf die bereits ausgestiegenen Beamt*innen zu. Sechs von ihnen feuerten daraufhin insgesamt 34 Schüsse auf den Wagen ab. Bilel G. wurde von sechs Kugeln getroffen – an Arm, Kopf und Rumpf. Er schwebte tagelang in Lebensgefahr.
Rechtsanwalt Roj Khalaf, der Bilel G. vertritt, stellt die offizielle Darstellung grundsätzlich infrage. Tatsächlich habe sein Mandant versucht zu entkommen und sei um die Polizeiautos herumgefahren, ohne jemanden überfahren zu wollen. Ein Anwohner, der die Situation beobachtete, unterstützt diese Sichtweise.
Bereits im Mai hatte die Staatsanwaltschaft Bielefeld die Ermittlungen wegen Körperverletzung im Amt gegen die sechs schießenden Polizist*innen eingestellt. Diese hätten aus Notwehr gehandelt. Angesichts der engen räumlichen Verhältnisse und des mit hoher Geschwindigkeit auf sie zu rasenden Autos hätten sie sich einem unmittelbaren Angriff auf ihr Leben ausgesetzt gesehen. Belegbar ist das nicht: Alle Bodycams der am Einsatz beteiligten Polizist*innen waren während des Einsatzes ausgeschaltet.
Gegen den Einstellungsbeschluss hatte Rechtsanwalt Khalaf noch im Mai Beschwerde eingelegt. Er wirft der Staatsanwaltschaft vor, den Aussagen der beteiligten Einsatzkräfte zu schnell Glauben geschenkt zu haben. Die Ermittlungen hätten zu lange gedauert, die Beamt*innen hätten sich absprechen können. Zudem kritisierte er, dass die Detmolder Staatsanwaltschaft gegen Polizist*innen ermittle, mit denen sie in anderen Fällen eng zusammenarbeitet. Die Täter*innen sollten deshalb von Bilels Verteidigung befragt werden können.
Auch darüber wurde nun entschieden: Die Generalstaatsanwaltschaft Hamm hat am Dienstag mitgeteilt, dass sich die Polizist*innen nicht vor Gericht verantworten müssen. Die Beschwerde sei als unbegründet zurückgewiesen worden, »da die Abschlussentscheidung der Staatsanwaltschaft Detmold der Sach- und Rechtslage entspricht«, bestätigte ein Sprecher gegenüber »nd«.
Sechs Polizist*innen feuerten 34 Schüsse auf den Wagen ab. Der 19-Jährige wurde von sechs Kugeln getroffen – an Arm, Kopf und Rumpf.
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»Es ist eine gute Nachricht, dass Bilel nicht angeklagt wird – auch wenn er und seine Familie und Freunde über zwei Jahre lang mit einer Ungewissheit leben mussten«, sagt Rukem Abdel vom Solidaritätskreis aus Herford. Dass die 13 am Einsatz beteiligten Polizist*innen und insbesondere die sechs Schützen unbehelligt weiterarbeiten können, fühle sich jedoch »nicht nach Gerechtigkeit an«.
Auch Michèle Winkler vom Grundrechtekomitee in Köln hält die Verfahrenseinstellungen gegen die Einsatzkräfte für nicht nachvollziehbar. »Wenn 13 Polizist*innen gemeinschaftlich 34 Schüsse abgeben, dann gehört das zur Aufarbeitung vor Gericht«, sagte Winkler gegenüber »nd«. Und erinnert: »Die deutsche Polizei hat im letzten Jahr so viele Menschen erschossen wie nie zuvor seit Beginn von Aufzeichnungen im Jahr 1976. Deshalb müssen derartige Vorfälle konsequent aufgeklärt werden.«
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