Proteste gegen Netanjahus Kriegskurs

Streik in Israel aus Solidarität mit den Hamas-Geiseln

Berittene Polizei eskortiert oppositionelle Demonstranten in Tel Aviv.
Berittene Polizei eskortiert oppositionelle Demonstranten in Tel Aviv.

Mit der Blockade der wichtigsten Verbindungsstraße zwischen Jerusalem und Tel Aviv und anderen Protestaktionen hat am Sonntag in Israel ein Generalstreik begonnen, an dem sich zahlreiche Unternehmen und Kommunen beteiligen.

Das Forum der Familien der Geiseln hatte in den letzten Tagen dafür geworben, die israelische Wirtschaft zum Stillstand zu bringen. Damit soll die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zu Verhandlungen über die Freilassung der verbliebenen 50 in den Gazastreifen verschleppten Geiseln bewegt werden. In Israel beginnt die Arbeitswoche sonntags. »Hunderttausende Israelis werden heute das Land für zwei Forderungen lahmlegen: Verhandlungen zur Rückkehr der Geiseln und die Beendigung des Krieg«, heißt es in einer Erklärung der Initiative.

Die ersten vom israelischen Fernsehen übertragenen Bilder von den Aktionen machten klar, dass ihre Initiatoren über die in den letzten Jahren regelmäßig stattfindenden Straßenproteste hinausgehen wollen. Dunkler Rauch von brennenden Autoreifen hing am Sonntagmorgen über der Ayalon-Autobahn bei Tel Aviv. Zu einer Kundgebung im Zentrum der Stadt wurde eine Million Demonstranten erwartet.

Um 6.29 Uhr, der Uhrzeit des Hamas-Angriffs am 7. Oktober 2023, hatte vor der Residenz von Premier Netanjahu eine Mahnwache begonnen. Einav Zangauker, deren Sohn Matan in den Gazastreifen entführt wurde, fasst die Stimmung mittlerweile vieler Israelis zusammen: »Wir haben es satt, darauf zu warten, dass Netanjahu den Krieg beendet, wann es ihm passt.«

Der führende Oppositionsführer Jair Lapid appellierte an die Bevölkerung, sich an dem Ausstand aus Solidarität mit den Geiseln zu beteiligen. Doch dass es den Initiatoren tatsächlich gelingt, das ganze Land hinter sich zu bringen, ist unwahrscheinlich. Zwar zeigt sich der größte Gewerkschaftsverband Histadrut mit den Geiselfamilien solidarisch, doch ein Aufruf an die Mitglieder zur Arbeitsniederlegung blieb aus.

Die Umfragewerte für Netanjahu sind weiterhin hoch. Die Mehrheit der Israelis unterstützt demnach die von seinem Kabinett geplante ethnische Säuberung des Gazastreifens. Finanzminister Bezalel Smotrich bezeichnete die Demonstrationen am Sonntag als »perverse und schädigende Kampagne, die der Hamas in die Hände spielt.« Wenn Israel mit denjenigen, die Geiseln in Tunneln versteckten, verhandle, verspiele es seine Zukunft, erklärte der Hardliner. Die Zeitung »Yedioth Ahronoth« berichtet, dass auch die Polizei auf ein härteres Vorgehen setzt. Im Laufe des Sonntagvormittags wurden Dutzende Demonstranten verhaftet.

Währenddessen ist die Offensive auf Gaza-Stadt, die die Demonstranten verhindern wollen, bereits angelaufen. Schwere Luftangriffe der israelischen Armee (IDF) zerstörten am Sonntag mehrere Wohnhäuser im Viertel Zitoun, im Al Ahli Krankenhaus schlugen Raketen ein. Das Gesundheitsministerium zählte mehr als 30 Tote. Tausende Familien sind in Richtung der von der Armee ausgewiesenen Zonen für Zivilisten unterwegs.

Die IDF will die Bewohner möglichst nahe an die ägyptische Grenze treiben. Smotrich und andere Politiker aus der Regierungskoalition setzen auf Gespräche mit dem Südsudan, Libyen und anderen Ländern, die viele der ehemals 2,3 Millionen Bewohner Gazas aufnehmen sollen. Die Zerstörung von Gaza-Stadt spielt in dem mittlerweile auch von israelischen Staatsrechtlern wie Omer Bartov als Genozid bezeichneten Plan eine entscheidende Rolle.

Israels Armee folgt in Gaza-Stadt dem sogenannten »Generalsplan«. Ein Gremium aus pensionierten Feldkommandeuren hatte im vergangenen Jahr dieses Drehbuch entwickelt, in dem der Bruch des Kriegsvölkerrechts bewusst einkalkuliert ist. Die Bevölkerung soll durch mehrwöchige und großflächige Bombardements von Wohnvierteln, dem Einsatz von Scharfschützen und Drohnen sowie durch eine Hungerblockade einzelner Stadtviertel gen Süden getrieben werden.

Als treibende Kräfte hinter der Idee gelten Smotrich, Netanjahu und Sicherheitsminister Ben Gvir. Am Sonntagmorgen veröffentlichte Videoaufnahmen bestätigten die Warnungen von Armeechef Eyal Zamir vor einem Angriff auf Gaza-Stadt. Zu sehen sind Angriffe kleiner Hamas-Trupps aus zerstörten Wohnblocks, bei denen offenbar israelische Soldaten verletzt wurden oder starben.

Auch ein neuer Vorschlag für eine Waffenruhe aus Katar und Ägypten erhöht den Druck auf das Netanjahu-Lager. Man sei sich mit US-Vermittler Steven Wittkoff über einen Stufenplan einig, hieß es aus Kairo. Premier Netanjahu, der auf die unerschütterliche Unterstützung aus Washington baut, reagierte am Sonntag wie üblich. Dies alles diene nur der Hamas, so eine knappe Erklärung aus seinem Büro.

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