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Knappe Abstimmung: EU-Parlament rettet Salis vor Orbán
Auslieferung der linken Europaabgeordneten nach Ungarn verweigert
Mit einer äußerst knappen Mehrheit hat das EU-Parlament Italiens Europaabgeordnete Ilaria Salis vor einem Prozess im von Victor Orbán rechtsregierten Ungarn geschützt. Bei der geheimen Abstimmung im Straßburger Plenum sprachen sich am Dienstagmorgen 306 Abgeordnete für den Erhalt ihrer Immunität aus, 305 dagegen, 17 enthielten sich.
Damit folgten die Parlamentarier*innen einer Empfehlung des Rechtsausschusses, der im September ähnlich knapp über den Antrag entschieden hatte. Auch dies ist ungewöhnlich: Weigerungen, Auslieferungsersuchen eines EU-Mitgliedstaats abzulehnen, sind äußerst selten. Das gilt auch für die geheime Abstimmung im Plenum, die Beobachter*innen zufolge die wachsende Sorge der EU-Abgeordneten über die Unabhängigkeit der Justiz in Ungarn widerspiegelt.
Budapest beschuldigt die heute 41-Jährige, 2023 an Übergriffen auf Rechtsextreme in der ungarischen Hauptstadt teilgenommen zu haben. Salis saß monatelang in Untersuchungshaft, ehe sie bei der Europawahl im Juni 2024 ins Parlament gewählt wurde. Dort war sie zusammen mit dem bekannten Flüchtlingsaktivisten und Bürgermeister Mimmo Lucano für die italienische Linksfraktion Alleanza Verdi-Sinistra angetreten.
Ausschlaggebend für die knappe Abstimmung war die uneinheitliche Position innerhalb der Europäischen Volkspartei (EVP), der stärksten Fraktion. EVP-Chef Manfred Weber hatte vor der Abstimmung klargestellt, seine Fraktion stehe »für die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit und damit für die Einhaltung der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments«. Der Empfehlung des Rechtsausschusses müsse gefolgt werden, da das Salis vorgeworfene Delikt vor ihrem Mandat begangen wurde. »Die Frage darf nicht politisiert werden«, betonte Weber.
Bei der Abstimmung missachteten offenbar zahlreiche Christdemokrat*innen diese Empfehlung. Der EVP gehört auch Forza Italia an, die angekündigt hatte, für die Aufhebung der Immunität stimmen zu wollen. Ob dies befolgt wurde, lässt sich aber nicht überprüfen.
Unmittelbar nach Bekanntgabe des Votums empfingen viele Abgeordnete Salis mit Umarmungen und Blumen im Plenum. Salis selbst postete in sozialen Medien ein Foto mit gestreckter linker Faust und dem Spruch auf Italienisch: »Wir sind alle Antifaschist*innen!« In einer Stellungnahme der europäischen Linksfraktion wertete sie das Ergebnis als »Sieg für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Antifaschismus«.
Weiter erklärte Salis: »Diese Entscheidung zeigt, dass Widerstand funktioniert. Sie beweist, dass autoritäre Kräfte konfrontiert und besiegt werden können, wenn gewählte Vertreter*innen, Aktivist*innen und Bürger*innen gemeinsam demokratische Werte verteidigen.« Zugleich warnte sie: »Alle antifaschistischen Aktivist*innen, die ins Visier genommen werden, weil sie Autoritarismus und faschistische Kräfte herausfordern, müssen verteidigt werden.«
Gemeint sind bis zu 20 Personen mit deutschen, italienischen, einer syrischen und einer albanischen Staatsangehörigkeit, die Ungarn im sogenannten Budapest-Komplex vor Gericht stellen will. Dort drohen ihnen bis zu 24 Jahren Haft. Mehreren Deutschen wird indes in derselben Sache vor den Oberlandesgerichten Düsseldorf und teilweise auch in Dresden der Prozess gemacht.
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Vor den Abstimmungen zur Aufhebung von Salis’ Immunität hatte die ungarische Regierung massiven Druck ausgeübt. Regierungssprecher Zoltán Kovács warf dem Rechtsausschuss vor, dieser habe entschieden, »eine Kriminelle mit ideologischem Hintergrund davonkommen zu lassen, und damit linksextremen Terrorismus legitimiert«. Ministerpräsident Victor Orbán bezeichnete die Antifa in einem Staatsradio-Interview als »wirklich eine Terrororganisation«.
Auch aus dem rechten Italien kam heftige Kritik. Vizepremier Matteo Salvini von der Partei Lega schrieb auf X von einer »Schande« und kritisierte, dass »auch einige, die sich ›Mitte-rechts‹ nennen« gegen die Aufhebung gestimmt hätten.
Neben Salis schützte das Parlament am Dienstag auch die Immunität des ungarischen Abgeordneten und Oppositionsführers Peter Magyar und der ungarischen Oppositionellen Klara Dobrev. Gegen Magyar, einst enger Vertrauter von Orbán und heute einer seiner schärfsten Kritiker, laufen in Ungarn Strafverfahren wegen Diebstahls und Verleumdung. Er gilt bei den Parlamentswahlen im Frühjahr 2026 als ernstzunehmender Konkurrent des Ministerpräsidenten Orbán.
Mit der Bestätigung ihrer Immunität ist das juristische Verfahren gegen Salis zwar vorläufig beendet und eine Anklage wegen der angeblichen Übergriffe auf Neonazis ausgeschlossen. Ungarn kann aber noch den Europäischen Gerichtshof anrufen, um die Parlamentsentscheidung anzufechten. Damit eine solche Klage angenommen wird, müsste aber nachgewiesen werden, dass EU-Vorschriften missachtet wurden.
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