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Netanjahus Krieg für Groß-Israel
Netanjahu will angeblich die Einnahme des gesamten Gazastreifens vorantreiben
Die Antwort von Benjamin Netanjahu kam prompt. Am Sonntagabend hatten mittlerweile über 600 ehemalige Vertreter von Geheimdienst und Militär in einem spektakulären offenen Brief ein sofortiges Ende des Krieges in Gaza und den Beginn von Verhandlungen über die Rückkehr der 20 noch lebenden Geiseln gefordert. Die Erklärung, unterschrieben von allen noch lebenden Chefs der Geheimdienste Schin Bet und Mossad, zeigt so deutlich wie nie zuvor, dass sich nun zwei politische Lager unversöhnlich gegenüberstehen. Die von Netanjahus Regierungskoalition offen geforderte ethnische Säuberung des Gazastreifens und die Einverleibung des Westjordanlands durch Israel sehen die ehemaligen Leiter der wohl effektivsten Geheimdienste der Welt als existenzielle Gefahr.
Bisher hatten nur einzelne Offiziere offen Kritik geübt, so wie der ehemalige Kommandeur der Streitkräfte Dan Halutz. »Der größte Feind Israels heißt Benjamin Netanjahu, er ist ein Sicherheitsrisiko und sollte verhaftet werden«, so Halutz im April in einem Interview des TV-Senders Kanal 12.
Am Montag waren mehrere Hundert Demonstranten vor Netanjahus Privathaus erschienen und hatten wie Zehntausende Mitstreiter auf den Straßen von Tel Aviv das Ende der Hungerblockade in Gaza gefordert. Bei beiden Protestaktionen wurden einzelne Demonstranten festgenommen.
Das Regierungslager zeigt sich von dem zunehmenden Widerstand unbeeindruckt. Das Nachrichtenportal »Ynet« zitierte Netanjahu nach einem Treffen mit seinen Ministern am Dienstagmorgen: »Die Würfel sind gefallen. Wir werden den gesamten Gazastreifen besetzen.«
In den nächsten Tagen werde er sich die Rückendeckung der Militärführung holen, so Netanjahu. Doch nicht auf dem Verhandlungsweg, sondern wieder einmal mit persönlichen Angriffen. Armeechef Eyal Zamir lehnt es ab, die verbliebenen 25 Prozent des Territoriums der Enklave militärisch einzunehmen. »Es würde Monate dauern, sämtliche Tunnel der Hamas zu zerstören«, so Zamir, »und die verbliebenen Geiseln würden so eine Offensive wohl nicht überleben.« Wenn Zamir nicht mitmache, solle er einfach zurücktreten, ließ Netanjahu daraufhin durchblicken.
Auch das Forum der Geiselfamilien sieht in der von Ultranationalisten wie Finanzminister Bezalel Smotrich und Sicherheitsminister Itamar Ben Gvir mit Regelmäßigkeit geforderten Eroberung des gesamten 42 Kilometer langen Küstenstreifens – mit dem Ziel der jüdischen Wiederbesiedlung – ein Todesurteil für die Entführten. »Seit 22 Monaten wird uns die Illusion verkauft, dass militärischer Druck die Geiseln zurückbringen werde«, heißt es in einer Erklärung vom vergangenen Sonntag.
Bisher waren es vor allem Stimmen aus dem politisch linken Lager, die Netanjahu vorwarfen, den Krieg aus purem Eigeninteresse fortzusetzen. Nun wechseln fast täglich weitere Vertreter des Sicherheits-Establishments die Seiten. Der frühere Armeesprecher Peter Lerner fasst das Vorgehen der Regierungskoalition so zusammen: »Politisches Überleben, maskiert als nationale Sicherheit. Unsere Söhne und Töchter befinden sich in einem endlosen Sumpf.« Der populäre Ex-Direktor des Mossad sieht Israel vor einer politischen und militärischen Niederlage.
Im Kreise seiner Vertrauten lässt Netanjahu durchblicken, warum er die Warnungen seiner Gegner in den Wind schlägt. Zusammen mit seinen radikalen Koalitionspartnern will er eine aus seiner Sicht historische Mission erfüllen. Noch während der Amtszeit von Donald Trump, in dessen Regierungsmannschaft mehrere bedingungslose Israel-Anhänger sitzen, sollen Gaza und das Westjordanland Teil eines Groß-Israels werden. Nablus, Hebron, Ramallah und Rafah sollen nach Vorstellung der ihm ideologisch nahestehenden »Kahanisten« den Status von halbautonomen Enklaven erhalten. Um eine Zweistaatenlösung zu verhindern, sind sie zu fast allem bereit.
Die Vertreter dieser religiös-nationalen Bewegung rechtfertigen die aus ihrer Sicht nötige Vertreibung möglichst vieler Palästinenser mit dem historischen Recht von Juden auf ganz Palästina. Doch noch häufiger hört man von ihnen das Argument, Israel könne nicht mit vom Iran kontrollierten Entitäten zusammenleben.
Die Minister Ben Gvir und Smotrich wähnen sich und die von ihnen angeführten messianischen Kreise in einem historischen Kampf: gegen die Proteste auf den Straße sowie die warnenden Worte der ehemaligen Geheimdienst- und Armeeoffiziere, für »Eretz Israel«, ein Groß-Israel, dessen Grenzen auch die zu Syrien gehörenden Golan-Höhen einschließen sollen.
Seit dem 7. Oktober 2023 haben die beiden rechtsradikalen Minister viele der 700 000 Siedler im Westjordanland bewaffnet und eine Art Bürgerwehr zu ihrem Schutz aufgebaut. »Die radikalen Siedler begehen Pogrome im Westjordanland«, warnt Ex-Premierminister Ehud Olmert. »Sie sind eine Gefahr für das liberale Israel, das wir repräsentieren.«
In der Knesset, dem israelischen Parlament, sind allzu kritische Stimmen nicht mehr erwünscht. Der Abgeordnete Ofer Cassif von der linken Hadash Taal Partei zitierte am Montag den zurzeit berühmtesten israelischen Schriftsteller David Grossman. »Mit gebrochenem Herzen sage ich, dass Israel in Gaza einen Genozid verübt«, hatte dieser in einem Interview mit der italienischen Zeitung »La Repubblica« gesagt. »Das ist kein Zitat, sondern von ihnen fabriziert«, schimpfte Vize-Parlamentssprecher Tali Gottlieb und ließ Cassif von Ordnern gewaltsam vom Redepult entfernen.
Generalstaatsanwältin Baharav-Miara hatte immer wieder Regierungsentscheidungen wie die Entlassung des Netanjahu-kritischen Shin Bet-Chefs verhindert. Nun soll sie selbst gehen. Ihre von der Regierung beschlossene Entlassung verhinderte zwar der Oberste Gerichtshof. Innerhalb von 30 Tagen wollen die Richter den Einspruch der Opposition prüfen. Die Richter werden wohl den gesamten Zeitrahmen für die Entscheidung nutzen. Denn dem gegen internationales Recht verstoßenden Groß-Israel-Projekt stehen auch sie im Wege.
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