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»Alle reden nur über Essen«
Salma lebt in Berlin, ihr Freund Yassin in Hannover. Ihre Familien kämpfen in Gaza ums Überleben
An einem lauen Sommerabend treffe ich Salma* in einem indischen Restaurant in Berlin-Kreuzberg. Die Sommerferien haben begonnen, und die beiden Frauen am Nebentisch besprechen ihre Urlaubspläne. Salma und ich sprechen auch über eine Reise – allerdings eine ganz anderer Art: Salma ist Palästinenserin aus dem Libanon, ihr Freund Yassin kommt aus Dschabaliya im Norden Gazas. Er lebt momentan in Hannover, Salma in Berlin. In den Ferien wollen sie zusammen nach Rumänien fliegen, um Yassins Bruder Mohammed zu besuchen. Seit dem Tod des Vaters in Gaza geht es ihm psychisch immer schlechter, er braucht dringend Unterstützung.
Wenn Salma versucht, Mohammeds Zustand zu beschreiben, dann fehlen ihr die Worte. Sie nennt ihn nur »er« und legt ihre Hand an den Kopf, um sie etwas zu drehen – als wollte sie andeuten, dass jemand verrückt ist. Ich gucke etwas fragend, und sie erklärt: »Er dreht einfach durch.« Ich nicke. »Hat er Depressionen?«, frage ich. »Ja, genau!«, antwortet sie. Ich beschließe, nicht nachzubohren und sie erzählen zu lassen.
Sie beginnt mit der Familie von Yassin und Mohammed – eine große Familie mit zwölf Kindern aus dem Norden Gazas. Ein paar Söhne sind irgendwann gegangen, wie Yassin, der seit mehreren Jahren in Deutschland lebt, Mohammed, der in Rumänien Medizin studiert, oder Wassim, der in Kanada ein Leben aufgebaut hat. Vier Brüder und drei Schwestern sind noch dort. Alle sind verheiratet und haben Kinder. Sie alle haben bis Oktober 2023 in Dschabaliya gelebt.
Der Vater, der nicht wiederkam
Als der Krieg losging, waren die Eltern von Yassin entschlossen, in ihrer Heimatstadt zu bleiben und ihr Zuhause nicht zu verlassen. Das änderte sich, als Omar, der Vater, Ende Oktober zum UNRWA-Hilfswerk ging, um Essen zu holen. Er kam nie wieder nach Hause. Israel bombardierte Dschabaliya nach dem 7. Oktober regelmäßig. Der heftigste Angriff war am 31. Oktober 2023, bei dem laut Gesundheitsministerium in Gaza über 50 Menschen getötet und 150 verletzt worden sein sollen. Ob Omar auch zu den Opfern gezählt wurde, ist unwahrscheinlich, denn seine Leiche wurde nie gefunden. Für die Familie macht dies die Akzeptanz seines Todes und dessen Verarbeitung noch schwieriger als ohnehin schon.
Nach dem Tod des Vaters konnten sie die Mutter dazu überreden, Dschabaliya zu verlassen. Trotz mehrerer Knie-Operationen und Schwierigkeiten beim Laufen, schaffte sie den Weg ins nahegelegene Al-Shati-Camp, wo auch ein paar ihrer Kinder und Enkelkinder waren. Seitdem ist die Familie immer wieder umgezogen. Nach Rafah, in verschiedene Zeltstädte im Süden. Ein Nomadenleben, immer auf der Flucht vor Bomben und Angriffen. Viele Freund*innen, Nachbar*innen und Verwandte haben sie bis heute verloren. Und Dschabaliya gibt es nicht mehr. »Alles platt, kaputt,« sagt Salma.
Wir haben mittlerweile Essen bestellt. Curry, Butter Chicken, Tee und Fanta. Die Frauen neben uns sind still geworden. Vielleicht hören sie Salma auch zu. Sie erzählt jetzt eine Geschichte nach der anderen von Toten und Verletzten. So viele, dass ich kaum hinterherkomme.
Zum Beispiel der Vorfall im Zelt, wo eine von Yassins Schwestern ihr Baby auf dem Arm hielt, als plötzlich eine Kugel dessen Fuß durchbohrte. »Verrückt, oder?«, fragt Salma und wandert schon zur nächsten Geschichte. Der Vater vom besten Freund von Yassin wollte seine Söhne im Krankenhaus besuchen. Er hatte erfahren, dass sie in einen Bombenangriff gekommen waren und ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Verzweifelt machte er sich auf den Weg dorthin, aber er kam nie an. Israelische Soldaten erschossen ihn auf dem Weg dorthin. Der Vater war taub. Möglicherweise hatten die Soldaten ihm befohlen, stehenzubleiben und er hat sie aufgrund der Taubheit nicht gehört. Möglicherweise hätten sie ihn auch so erschossen. Das weiß man nicht. Er ist tot, genauso wie der Vater von Yassin. Zwei Familienväter, die fehlen.
Dann kommt Salma auf ihre eigenen Cousins zu sprechen, die in Khan Yunis lebten. »Sie standen mit einer Gruppe von Freunden auf der Straße, als sie von einer Bombe getroffen wurden. Der Vater musste später das Fleisch suchen«, erzählt sie. »Fleisch?«, frage ich, weil ich denke, ich verstehe nicht richtig. »Die Leichen meinst du?« Salma sucht nach Wörtern. »Stückchen« – und jetzt verstehe ich. Die Bombe hat die Körper so zerfetzt, dass der Vater später nach übriggebliebenen Fetzen der Körper seiner Söhne suchte. »Zum Glück ist meine Tante, also deren Mutter, schon vor dem Krieg gestorben«, findet Salma, »damit sie das nicht erleben musste.«
Man könnte meinen, es reicht jetzt mit schlimmen Geschichten, aber Salma hat gleich die nächste: »Vorgestern sollte ein 12-jähriger Neffe von Yassin Mehl holen. Sein 10-jähriger Bruder hatte Angst um ihn und ist ihm heimlich gefolgt. Irgendwo hat sich der 12-Jährige verlaufen und der Kleine hat ihn nicht mehr gesehen. Er ist dann selbst zur Ausgabestelle und hat einen Sack Mehl geholt. Auf dem Nachhauseweg wurde auf ihn geschossen. Verletzt lag er auf der Straße und hat sich am Mehlsack festgeklammert. So haben ihn die Eltern dann am Abend gefunden. Er war schwer verletzt, aber ganz stolz, dass er das Mehl noch hatte!«, berichtet Salma und schüttelt den Kopf. Laut UN sind seit dem 27. Mai 1373 Palästinenser*innen auf der Nahrungssuche getötet worden. Yassins Neffe lebt noch, aber gut geht es ihm nicht. Die Gesundheitsversorgung ist katastrophal.
»Am Anfang habe ich vor allem die Bomben und Raketen katastrophal gefunden. Aber die kaputte Infrastruktur ist genauso gefährlich,« weiß Salma inzwischen. »Ein Nachbar von meinen Schwiegereltern – noch in Dschabaliya – hatte einen Herzschrittmacher. Die Batterien waren irgendwann leer und konnten nicht ersetzt werden. Jeden Tag ist er umgefallen!«, erklärt sie entsetzt.
Salma ist vor knapp zehn Jahren als Jugendliche nach Deutschland gekommen. Ohne Eltern hat sie ihr Leben in Berlin allein aufgebaut. Sie lernte Deutsch, machte ihren Schulabschluss, eine Ausbildung zur Erzieherin und arbeitet seitdem in einer Kita. Sie achtet auf Kinder, das ist ihr Beruf. »Kinderschutz ist in Deutschland so wichtig«, sagt sie. »Ich verstehe nicht, warum die Politiker sich nicht wenigstens über das Töten der Kinder empören. Das sind doch auch Kinder!«
Eine andere Schwester von Yassin, die vor ungefähr anderthalb Jahren ein Baby bekommen hat, selbstverständlich ohne Betäubung oder Schmerzmittel, telefoniert regelmäßig mit den beiden. »Das Kind kennt nichts! Wenn ich ihr im Video-Call einen Teddybären oder eine Quietsche-Ente zeige, hat die das noch nie gesehen. Die kennt nur Brot und Linsen. Traurig, oder?« Salma merkt, dass sie ihre Fanta noch gar nicht angerührt hat und nimmt einen Schluck. »Niemand da kann an die Zukunft denken. Alle reden nur über Essen! Die ganze Zeit.« Das leuchtet mir ein.
»Auch das Trinkwasser ist ein großes Problem. Die haben Maschinen gebaut, um das Meerwasser vom Salz zu trennen. Aber das sind keine richtigen Maschinen, es gibt ja kein Material, um was zu bauen. Manche Leute haben studiert und sind Ingenieure. Die haben versucht, mit Plastik was zu bauen. Aber es bleibt natürlich Salz im Wasser übrig. Alle haben Bauchweh. Und die Leute kippen ständig um.«
Die Lage wird immer schlimmer
Seit Anfang März hat Israel die Hilfslieferungen in den Gazastreifen gestoppt. Nach Warnungen vor einer Hungersnot und heftiger internationaler Kritik reagierte die israelische Regierung mit einer Propagandaoffensive, in der sie die UN für den Hunger in Gaza verantwortlich macht. Immerhin erlaubt sie seit Ende Juli Hilfslieferungen aus der Luft. An diesen beteiligt sich auch Deutschland, allerdings werden Luftabwürfe als ineffizient und sogar gefährlich kritisiert.
Es ist alles eine Katastrophe. »Uns geht’s allen scheiße«, meint Salma. »Ich habe mich im Winter oft krankgemeldet. Instagram mache ich nur noch selten an. Wenn ich ein Reel aus Gaza sehe, kann ich nicht mehr arbeiten. Manchmal kann ich auch nicht mehr essen«, sagt sie. »Mein Freund hat versucht, irgendwie zu funktionieren. Nachrichten gucken und trotzdem zu essen und zu arbeiten – wie Deutsche!« Ich lache etwas verlegen. »Nein, das ist nicht schlimm, das Leben muss ja weitergehen!«, antwortet sie. »Aber wir können das nicht. Letzten Monat hatte er eine Handyrechnung über 600 Euro, weil er so viel mit seiner Familie telefonierte. Er guckt immer, wohin sich die Armee bewegt, wo Bombenangriffe sind, und erklärt dann der Mutter, wo sie hingehen soll. Die haben ja kein Internet dort.«
Salma findet aber, er hätte das Geld lieber nach Gaza senden sollen, als dem Telefonanbieter zu geben. Yassin und Salma schicken der Familie Geld über Drittmänner, die ihnen 50 Prozent abnehmen. Aber sie müssen es so machen, sonst bekommt die Mama kein Geld. »Die Hilfsorganisationen vor Ort erreichen ja längst nicht alle Menschen.«
Viel sage ich nicht in dieser absurden Situation, in der wir beim Inder sitzen, lecker essen und über zerfetzte Körper, angeschossene Kinder und verhungernde Menschen sprechen. Was auch? Wir gehen und spazieren noch ein bisschen durch Kreuzberg.
Salma fährt am nächsten Tag zu Yassin nach Hannover. Als sie eine Woche später nach Rumänien zu Mohammed fliegen, erklärt der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, dass die israelische Armee Gaza-Stadt einnehmen und militärisch kontrollieren will. Die deutsche Regierung reagiert darauf mit einer Einschränkung der Waffenlieferungen – wofür Bundeskanzler Friedrich Merz aus Teilen der CDU und der CSU heftig kritisiert wird.
Während Yassin und Salma in Rumänien sind, wird der bekannte »Al Jazeera«-Journalist Anas Al-Scharif zusammen mit sechs weiteren Journalisten in Gaza-Stadt in einem gezielten Angriff getötet. Al-Scharif ist auch in Dschabaliya geboren und aufgewachsen, wie Yassin und Mohammed. Salma postet Fotos von ihm und gebrochene Herz-Emojis in Instagram-Storys. Das Töten von Journalisten ist ein Kriegsverbrechen, doch bisher hat es keine Konsequenzen gegeben. Salma postet auch ein Foto von einem Balkon, von dem eine palästinensische Flagge hängt. »Die Solidarität der Menschen ist das Einzige, was Mut macht«, sagt sie. Mehr bleibt ihr nicht, während sie weiter auf Nachrichten aus Gaza wartet – und auf ein Ende des Krieges hofft, das aber nicht in Sicht ist.
*Die Namen der Personen wurden auf ihren Wunsch hin hier geändert.
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