Krawalle in Lausanne nach Tod eines 17-Jährigen

In der Schweiz sind zuletzt mehrfach Migranten bei Polizeikontrollen ums Leben gekommen. In Lausanne ist die Situation jetzt eskaliert

  • Sarah Schmalz (WOZ)
  • Lesedauer: 3 Min.
Jugendliche gedenken dem bei einer Polizeikontrolle in Lausanne getöteten 17-jährigen Marvin.
Jugendliche gedenken dem bei einer Polizeikontrolle in Lausanne getöteten 17-jährigen Marvin.

Lausanne, immer wieder Lausanne. Anfang vergangener Woche haben in der Westschweizer Stadt Jugendliche ihrer Wut Ausdruck verliehen. Sie setzten Müllcontainer in Brand, warfen Molotowcocktails in Richtung der Polizei. Auslöser für die Krawallnächte war der Tod des siebzehnjährigen Marvin, der am Wochenende auf der Flucht vor einer Polizeikontrolle mit einem Scooter an eine Mauer geprallt und gestorben war. Bislang sind nur wenige Details zur genauen Unfallursache bekannt.

Lamin Fatty, Hervé Mandundu, Mike Ben Peter, Roger »Nzoy« Wilhelm und Michael Kenechukwu Ekemezie heißen die fünf Schwarzen Männer, die in der Waadt seit 2016 bei Polizeieinsätzen getötet wurden; in der Nacht auf den 1. Juli dieses Jahres starb in der Kantonshauptstadt Lausanne zudem ein vierzehnjähriges Mädchen unter ähnlichen Umständen wie am vergangenen Wochenende Marvin.

Trotz zahlreicher Medienberichte über Rassismus in den Polizeikorps und den militärischen Geist in der Ausbildung der regionalen Polizei haben die Verantwortlichen bisher jede Existenz von strukturellem Rassismus und Polizeigewalt in ihren Korps bestritten. Die beteiligten Polizist*innen gingen stets straffrei aus.

Rund 50 Polizist*innen waren laut der Staatsanwaltschaft mehr oder weniger aktiv in den Chats, das entspricht rund zehn Prozent aller Lausanner Stadtpolizist*innen.

Die Jugendlichen in ihrer Wut bestärkt haben die Enthüllungen, die Ende August die Farce dieser Behauptung auf krasseste Weise entlarvten. Die zuständige Staatsanwaltschaft informierte über zwei Whatsapp-Chatgruppen, in denen Beamt*innen der Lausanner Polizei ab 2016 rassistische, homophobe, sexistische und diskriminierende Inhalte teilten: Witze über Rom*nja, Anspielungen auf den Ku-Klux-Klan und Nazi-Insignien.

Schockierend an diesen Enthüllungen sind nicht nur der offene Hass und die schiere Menge an Material, das die Staatsanwaltschaft derzeit auswertet: rund 6000 versendete Fotos und Videos. Schockierend ist vor allem auch das große Schweigen. Rund 50 Polizist*innen waren laut der Staatsanwaltschaft mehr oder weniger aktiv in den Chats, das entspricht rund zehn Prozent aller Lausanner Stadtpolizist*innen. Während sechs Jahren waren die Chats online. Niemand hat sich in dieser Zeit genug an den geteilten Inhalten gestört, um sie nach oben zu melden. Stattdessen: Komplizentum, Korpsgeist, Solidarität der Macht.

Angeheizt wurden die Proteste in Lausanne auch von einer weiteren Gleichzeitigkeit: Ausgerechnet am Montag vor acht Tagen präsentierte die unabhängige Rechercheagentur Border Forensics neue Erkenntnisse im Fall des 2021 am Bahnhof von Morges getöteten Roger »Nzoy« Wilhelm, die die beteiligten Polizist*innen stark belasten.

Der Bericht liefert erstmals auch umfassende Zahlen zur Polizeigewalt in der Schweiz: Border Forensics hat 83 Fälle von Tötungen durch die Polizei in der Schweiz zusammengetragen, der Kanton Waadt (zu dem Lausanne gehört) sticht als tödlichster Kanton heraus.

Doch ist Polizeigewalt kein isoliertes Phänomen, sondern vielmehr Ausdruck eines tief in der Gesellschaft verankerten strukturellen Rassismus – dem sich die Schweiz bisher kaum stellt.

Davon zeugt etwa die Aussage des Lausanner Polizeivorstehers Pierre-Antoine Hildbrand (von der freisinnigen Partei FDP), der auf der Pressekonferenz zu den Polizeichats zwar ein systemisches Problem einräumte, aber auch sagte, die Chats seien »ein Fleck auf der Uniform der Polizei, den wir wegwischen müssen«. Davon zeugen auch zahlreiche rassistische Kommentare in der Berichterstattung von Onlinemedien. »Man sieht ja, mit was für Klienten die Polizei dort unten die letzten zwei Nächte zu tun hatte …« ist nur eine Wortmeldung von vielen.

Die Jugendlichen, die in Lausanne auf die Straße gehen, werden von der Ohnmacht angetrieben, in der Schweiz nicht sicher zu sein – und ihre Erfahrung abgesprochen zu bekommen. Man sollte ihnen zuhören.

Dieser Artikel erschien zuerst in unserem Schweizer Partnermedium WOZ.

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