Existenzminimum gekürzt

Der Europäische Gerichtshof verhandelt, ob deutsche Behörden Leistungen für abgelehnte Asylsuchende kürzen dürfen

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 4 Min.
Wie wenig darf es sein? Darüber verhandelt der Europäische Gerichtshof.
Wie wenig darf es sein? Darüber verhandelt der Europäische Gerichtshof.

Konkret geht es um den Fall des 23-jährigen Afghanen Farin B. (Name geändert). Er lebte bis 2022 im Ankerzentrum Schweinfurt. Weil er zuvor in Rumänien einen Asylantrag gestellt hatte, wurde sein Antrag in Deutschland als unzulässig abgelehnt. Damit wurde er zu einem »Dublin-Fall« – denn die EU-Regeln schreiben vor, dass Schutzsuchende dort Asyl beantragen müssen, wo sie zuerst europäischen Boden betreten. Die Behörden ordneten seine Abschiebung an und strichen seine Geldleistungen. Übrig blieben Unterkunft und Essen im Ankerzentrum sowie einfache Hygieneartikel. Keine Busfahrkarte, kein Handyguthaben, kein Cent für das tägliche Leben.

Die Behörden beriefen sich dabei auf Paragraf 1a des Asylbewerberleistungsgesetzes. Das EuGH soll nun klären, ob dies mit EU-Recht vereinbar ist. Jutta Siefert, Richterin am Bundessozialgericht, bezeichnet das als offen. Denn die Aufnahmerichtlinie der EU schreibt vor, dass Geflüchtete Anspruch auf einen »angemessenen Lebensstandard« haben – einschließlich Geldleistungen für das alltägliche Leben. Darum hat das Bundessozialgericht die Frage dem EuGH vorgelegt.

Die Entscheidung des EuGH könnte weitreichende Folgen für die deutsche Gesetzgebung haben. Denn im vergangenen Jahr hat die Ampel-Regierung die Regeln mit ihrem sogenannten Sicherheitspaket sogar noch verschärft: Dublin-Flüchtlinge sollen überhaupt keine Sozialleistungen mehr erhalten. Sie erhalten maximal zwei Wochen Unterstützung und sollen so zu einer Ausreise bewegt werden. Das Argument: Die Menschen könnten einfach ausreisen und so das Problem beenden.

»Im 21. Jahrhundert sollte man Menschen nicht aushungern, um migrationspolitische Ziele zu erreichen. Das ist eine Methode, die eher ins Mittelalter gehört.«

Klaus Schank Rechtsanwalt

Rechtsanwalt Klaus Schank vertritt den Asylsuchenden B. in dem Verfahren. Er kritisiert diese Politik scharf: »Im 21. Jahrhundert sollte man Menschen nicht aushungern, um migrationspolitische Ziele zu erreichen. Das ist eine Methode, die eher ins Mittelalter gehört.« Schank ist zuversichtlich, dass der EuGH in seinem Sinne urteilen wird. »Aus meiner Sicht sind die Kürzungen von Leistungen für Geflüchtete weder mit den Mindeststandards des EU-Rechts, noch mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum vereinbar«, sagt Schank zu »nd«.
»Wenn der EuGH ›Bett, Brot und Seife‹ als EU-rechtswidrig einschätzen sollte, wäre klar, dass auch die neue Richtlinie, die komplette Kürzungen vorsieht, gegen EU-Recht verstößt«, sagt der Anwalt. Er geht davon aus, dass die Sozialgerichte in dem Fall den Betroffenen Rechtsschutz gewähren würden und die Leistungseinstellung keine Anwendung mehr finden würde.

Das sieht auch Lena Frerichs so. Sie ist Juristin und bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte für den Bereich »soziale Teilhabe« zuständig. »Mit dem Entzug der finanziellen Unterstützung werden Geflüchtete, für die laut EU-Recht ein anderer Staat zuständig wäre, dafür bestraft, dass sie nicht ausreisen. De facto ist es oft so, dass sie gar nicht ausreisen können, weil die Behörden es ihnen nicht ermöglichen«, sagt Frerichs. Zum Beispiel weigerten sich manche Staaten, Papiere zur freiwilligen Ausreise auszustellen. »Die Menschen werden für etwas sanktioniert, an dem sie nichts ändern können.« Gerade für Kinder sei das nicht zumutbar.
Schon jetzt wird diese neue »Null-Leistungen-Politik« fast nirgends umgesetzt, Gerichte und mehrere Länder gehen davon aus, dass ein vollständiger Leistungsausschluss gegen Verfassungs- und Europarecht verstößt. Ob die aktuelle Rechtslage erneut dem EuGH vorgelegt werden muss, ist laut Frerichs auch davon abhängig, wie das Gericht seine Entscheidung begründet.

Interessant wird sein, ob das Gericht auf die generell niedrigeren Leistungen für Asylsuchende im Vergleich zu Bürgergeldempfängerinnen eingehen wird. »Indem das Bundessozialgericht klar dargestellt hat, dass Geflüchtete weniger bekommen als Bürgergeldempfängerinnen haben sie dem Gericht die Möglichkeit dazu gegeben«, so Frerichs.

Die Bundesregierung hält derweil an ihrer Auffassung fest, dass die nationalen Regelungen zu Leistungseinschränkungen für vollziehbar ausreisepflichtige Personen mit dem Unionsrecht, einschließlich der Grundrechtecharta der Europäischen Union, im Einklang stehen. Bis das Urteil ergeht, könnte es noch eine Weile dauern. Nach einer mündlichen Verhandlung folgen die Schlussanträge der Generalanwältin oder des Generalanwalts meist innerhalb von zwei bis vier Monaten; das Urteil des EuGH wird dann häufig drei bis sechs Monate nach der Verhandlung oder den Schlussanträgen verkündet. Falls das EuGH die Regelung nicht kippen sollte, könnte das Bundessozialgericht den Fall als Nächstes dem Bundesverfassungsgericht vorlegen, um einen Verstoß gegen Grundrechte prüfen zu lassen.

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