Die Zukunft fährt vor

Fahrerlose Rufbusse sollen besonders im ländlichen Raum das Nahverkehrsangebot verbessern

  • Martin Reischke
  • Lesedauer: 8 Min.
Selbstfahrende Busse sind in einem Testlauf bereits in Hamburg im Einsatz.
Selbstfahrende Busse sind in einem Testlauf bereits in Hamburg im Einsatz.

In Langen – auf halber Strecke zwischen Frankfurt und Darmstadt – macht Deutschland einen Sprung in die Zukunft der Mobilität. Knut Ringat hat Politiker, Fachleute und Medien in einen Konferenzraum der Stadthalle eingeladen, um einen Meilenstein hin zum autonomen Fahren zu feiern. »Unser Ziel ist, die Zukunft für die Mobilität in der Region Frankfurt-Rhein-Main zu sichern«, sagt er. »Wie ist die Zukunft? Sie ist vernetzt, elektrisch, digital und autonom«, ist Ringat überzeugt.

Der Geschäftsführer des Rhein-Main-Verkehrsverbunds ist für den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) im Großraum Frankfurt/Rhein-Main mit rund fünf Millionen potenziellen Kunden verantwortlich. Zusammen mit der Deutschen Bahn hat der Verkehrsverbund das Projekt Kira entwickelt. Die vier Buchstaben stehen für »KI-basierten Regelbetrieb autonomer On-Demand-Verkehre«. Das heißt: Schon bald sollen fahrerlose Busse den Nahverkehr ergänzen und ihn so komfortabler und attraktiver machen.

Zum ersten Mal in Deutschland können in Langen und Umgebung registrierte Fahrgäste nun seit Ende Mai den sogenannten »automatisierten Fahrbetrieb auf Level 4« ausprobieren. Im Straßenverkehr gibt es Automatisierungsstufen von null bis fünf. Ein klassisches Fahrzeug, das vom Fahrer gelenkt, beschleunigt und gebremst wird, entspricht der Stufe 0. Eingebaute Assistenzsysteme, etwa für automatisches Einparken, entsprechen den Stufen 1 bis 3.

Erst wenn dem System die Verantwortung übertragen wird, die komplette Fahraufgabe zu übernehmen, spricht man vom autonomen Fahren. Das entspricht dann etwa der Automatisierungsstufe 4 – also fahrerlosem Betrieb innerhalb eines definierten Gebiets – und somit dem, was im Kira-Projekt gerade erprobt wird. Die Stufe 5 wäre erreicht, wenn das Fahrzeug in der ganzen Bundesrepublik fahren dürfte – für Nahverkehrsprojekte wie bei Kira in Hessen spielt das aber keine Rolle.

Beim Probebetrieb in Langen sind Pkw mit Kameras und Sensoren ausgestattet, die für Verkehrssicherheit sorgen.
Beim Probebetrieb in Langen sind Pkw mit Kameras und Sensoren ausgestattet, die für Verkehrssicherheit sorgen.

Bürgerinnen und Bürger können sich dort für die Testphase registrieren und die selbstfahrenden Shuttles nutzen: Sie bestellen den Wagen per App für eine Fahrt zwischen zwei von insgesamt 19 dafür eingerichteten Haltepunkten in Langen und der Nachbargemeinde Egelsbach; die jeweils beste Route wird vom Fahrzeug-Computer auf Grundlage der Zielorte der unterschiedlichen Nutzer berechnet. Das System poolt anschließend die individuellen Fahrten verschiedener Nutzer, legt sie also zusammen. Während der Probephase ist die Nutzung kostenlos, in diesem Monat weiten die Betreiber die Tests auf Darmstadt aus.

Das Auto, das bei Kira zum Einsatz kommt, ist ein fünfsitziger Elektro-SUV des chinesischen Herstellers Nio. Das israelische Unternehmen Mobileye rüstete es mit einem Fahrassistenzsystem nach. Johann Jungwirth, der bei Mobileye Vizepräsident für autonomes Fahren ist, steht neben dem weiß lackierten Wagen mit dem schwarzen Dachaufbau. »Das Fahrzeug hat 13 Kameras für die Rundum-Umgebungserfassung mit Bilderkennung. Außerdem neun Lidar-Sensoren, also Laser-basierte Sensoren auf dem Dach«, erklärt Jungwirth. »Drei davon sind Langsicht-Sensoren, die können bis zu 250 Meter oder sogar darüber hinaus in die Ferne schauen. Die anderen sechs sind Nahfeld-Lidar-Sensoren, um im Nahfeld-Bereich zum Beispiel Kinder zu erkennen oder einen Ball, der vor das Auto rollt.«

Die Kameras und Sensoren ergänzen einander, damit der Wagen auch bei trübem Wetter und schlechter Sicht sicher unterwegs sein kann. Das Selbstfahrsystem hat darüber hinaus Zugriff auf detaillierte Umgebungskarten und ein Regelwerk für das eigene Fahrverhalten. Das System wertet die Sensordaten ständig aus und verbessert das Fahrverhalten.

Wie sich das in der Praxis anfühlt, zeigt die anschließende Probefahrt. Sie soll vom Parkplatz der Stadthalle Langen zum nahegelegenen Bahnhof und wieder zurück führen, eine Tour mitten durch den Stadtverkehr. Es fühlt sich fast an wie eine normale Taxi-Fahrt, denn vorne hinter dem Lenkrad sitzt immer noch ein Sicherheitsfahrer, der im Notfall eingreifen kann. Das ist im Probebetrieb beim autonomen Fahren gesetzlich so vorgeschrieben.

Erste Testfahrten

Auf Höhe der Mittelkonsole zwischen Fahrer und Beifahrer ist vorne ein blauer Bildschirm angebracht, der die gesamte Umgebung abbildet – Informationen, die genau so auch im Fahrzeug-Computer verarbeitet werden. Die Darstellung der Fußgänger, Fahrzeuge und Ampeln ähnelt einem Computerspiel. Der Wagen blinkt und biegt auf die Hauptstraße ein. Das Auto fährt ruhig, der Sicherheitsfahrer lenkt nur einmal leicht nach, als der Wagen an einer Radfahrerin vorbeifährt. Nach zehn Minuten ist die Probefahrt zu Ende, ohne Zwischenfälle.

Auch die Menschen am Langener Bahnhof sind neugierig. Vielen fällt zum autonomen Fahren zuerst das Thema Sicherheit an: »Wenn das mal eingespielt ist, ist das ok«, meint ein älterer Mann. »Aber ich denke, am Anfang ist da doch jeder ein bisschen skeptisch!« Auch eine junge Frau hat noch Bedenken: »So ein fahrerloses Fahrzeug wäre mir sehr suspekt, ich brauche schon noch die Sicherheit, dass da jemand dran ist, der dann im Notfall entscheiden kann, was passieren muss.«

Zumindest diese Sorge versucht Martin Schmitz auszuräumen. Schmitz ist Geschäftsführer des Bereichs Technik beim Verband deutscher Verkehrsunternehmen. Unbeaufsichtigt seien die selbstfahrenden Fahrzeuge ohnehin nie, selbst wenn niemand hinter dem Steuer sitze. »Theoretisch sollte es natürlich so sein, dass autonom fahrende Fahrzeuge komplett alleine fahren können«, sagt Schmitz. »In der Praxis sehen wir aber natürlich, dass es immer Situationen gibt, in denen der Computer nicht sicher ist – dann hält das Fahrzeug an. Daher werden wir in der nahen Zukunft auf jeden Fall eine Leitstelle brauchen, in der ein Mensch draufguckt, wenn Situationen kommen, die der Computer als unsicher empfindet.«

Weil die automatischen Steuerungen noch an Grenzen stoßen, hat der Gesetzgeber in Deutschland festgelegt, dass der autonome Fahrbetrieb immer von einem Menschen überwacht werden muss. Diese Aufgabe wird in der Erprobungsphase noch durch den Sicherheitsfahrer im Wagen übernommen. Doch das müsse sich schnell ändern. »Die Herausforderung ist, die Technologie so weit zu bringen, dass wir keinen Sicherheitsfahrer mehr brauchen und nur noch über die Leitstelle die Fahrzeuge überwachen können«, sagt Schmitz. »Dann können wir da nämlich eine Person hinsetzen, die fünf bis zehn, vielleicht auch 20 Fahrzeuge betreut und als Ansprechpartner für die Fahrgäste zur Verfügung steht.«

Lösung für Personalmangel

Im hessischen Langen sollen die autonomen Rufbusse in Zukunft den bestehenden öffentlichen Nahverkehr ergänzen. Ein Modell, das bundesweit Schule machen könnte. Für Schmitz ist das nur eine Frage der Zeit, denn der öffentliche Personennahverkehr hat ein riesiges Personalproblem. In ganz Deutschland werden Busfahrer gesucht, aktuell sind es nach Branchenangaben rund 20 000. Fahrerlose Busse könnten helfen, dieses Problem zu lösen. Wirtschaftlich wird das Modell aber erst, wenn ein Mitarbeiter in der Leitwarte viele verschiedene autonome Autos und Busse betreuen kann.

Knut Ringat sieht außerdem große Chancen für ein besseres ÖPNV-Angebot im ländlichen Raum durch selbstfahrende Kleinbusse. »Dort, wo wir heute vielleicht nur Montag bis Freitag ein paar Mal am Tag eine Handvoll Busse schicken und am Wochenende häufig gar nicht, kann ich dann mit autonomen Fahrzeugen zu jeder Tageszeit Fahrten anbieten«, sagt der RMV-Chef.

Deshalb finden in vielen Städten und Gemeinden im ganzen Bundesgebiet derzeit Versuche zum autonomen Fahren im ÖPNV statt. Zwar sind im Kira-Projekt in Langen aktuell nur sechs Autos an 19 Haltestellen unterwegs, doch wenn die Probephase erfolgreich verläuft, soll sich das schon bald ändern. Schon 2030, also in fünf Jahren, will Ringat sein Projekt in die Fläche ausrollen. Doch noch hat er ein Problem: »Wir brauchen natürlich ein Fahrzeug, das eine Typgenehmigung hat«, erklärt er. »Ansonsten kann man es nicht im öffentlichen Personennahverkehr zum Einsatz bringen.«

Fehlende Genehmigung

Eine Typgenehmigung durch das Kraftfahrt-Bundesamt braucht jedes Fahrzeug, um in Deutschland im Regelbetrieb am Straßenverkehr teilnehmen zu können. Mit ihr bestätigt die Flensburger Behörde, dass das Fahrzeug den gesetzlichen Mindeststandards entspricht. Beim autonomen Fahren entscheidet anschließend noch eine Landesbehörde über das Gebiet, in dem das Fahrzeug fahren darf. Hierdurch soll sichergestellt werden, dass das lokale Straßennetz auch geeignet ist, zum Beispiel die Durchfahrtshöhe von Brücken.

Bisher allerdings hat noch kein einziger Hersteller eine Typgenehmigung für ein sogenanntes Level-4-Fahrzeug beim Kraftfahrt-Bundesamt beantragt. Autos und Busse in Projekten wie Kira sind deshalb stets mit einer Erprobungsgenehmigung unterwegs.

Doch das israelische Unternehmen Mobileye, das für die autonome Fahrtechnologie im Fahrzeug verantwortlich ist, hat zusammen mit dem VW-Konzern einen autonom fahrenden Kleinbus entwickelt, der gerade auf Hamburgs Straßen erprobt wird. Schon bald soll das Fahrzeug in die Serienfertigung gehen. Voraussetzung ist aber auch hier, dass das Kraftfahrt-Bundesamt die Typgenehmigung erteilt. Der VW-Konzern selbst rechnet mit einer Zulassung bis Ende 2026. Dann könnte das Fahrzeug auch ganz ohne Sicherheitsfahrer im Straßenverkehr unterwegs sein und würde nur noch von einer Leitwarte kontrolliert.

Andere Unternehmen, etwa der Automobilzulieferer Benteler, sind VW bei der Entwicklung der selbstfahrenden Busse dicht auf den Fersen. Ob der enge Zeitplan der Wolfsburger am Ende hält, steht allerdings noch in den Sternen. Knut Ringat rechnet für einen Einsatz eines zugelassenen Serienfahrzeugs in seinem Verbund lieber mit 2030 – und auch bis dahin wären noch einige Hürden zu überwinden.

Im Kopf hat er das Szenario für das Rhein-Main-Gebiet aber längst durchgespielt. »Wir haben 5500 Busse im RMV, wenn ich davon nur die Hälfte oder zwei Drittel rausnehme und durch On-Demand-Fahrzeuge im ländlichen Raum ersetze, würde das gut funktionieren.« Damit würden am Ende alle gewinnen: Die Fahrgäste, denen ein besserer Verkehr angeboten wird – und Verkehrsbetriebe wie der RMV, die durch geringere Personalkosten bei den autonomen Bussen viel Geld sparen könnten.

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