15 Jahre Kampf gegen Ausbeutung

Immer wieder nutzen Unternehmen die Lage von Migranten aus und zwingen sie in prekäre Beschäftigung

  • Hannah Blumberg
  • Lesedauer: 5 Min.
Beschäftigte von Lieferdiensten sind häufig von prekären Arbeitsbedingungen betroffen
Beschäftigte von Lieferdiensten sind häufig von prekären Arbeitsbedingungen betroffen

Die deutsche Wirtschaft zählt nicht nur zu den größten Finanziers des Rechtsrucks, sondern auch zu den größten Profiteuren der Migration. Wo im Kleinen über Moral und Menschlichkeit diskutiert wird, sorgen Geflüchtete und Einwander*innen unter prekären Bedingungen längst dafür, dass unser Alltag reibungslos abläuft. Ob auf Baustellen, bei Lieferdiensten, in der Pflege, der Gebäudereinigung oder der Gastronomie: Ausländische Arbeitnehmer*innen sind von Lohndumping, Zwangsarbeit und Arbeitsausbeutung betroffen. »Wir sehen, dass in einer Metropole wie Berlin diese Vorfälle keine Seltenheit sind«, so Arbeits- und Integrationssenatorin Cansel Kiziltepe (SPD). Das Berliner Beratungszentrum für Migration und Gute Arbeit (Bema) unterstützt Betroffene schon seit 15 Jahren bei der Durchsetzung ihrer Rechte.

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»Mit Beginn unserer Beratungstätigkeit 2010 haben wir einen Einblick in die Arbeitsrealität von Migrant*innen bekommen«, sagt Monika Fijarczyk vom Bema bei einem Pressetermin zum Jubiläum und spricht von systematischen Ausbeutungsstrukturen. Ihre Kollegin Irina Lazarova erklärt die Entwicklung der Stelle, die 2010 als ein Gewerkschaftsprojekt mit zwei Berater*innen unter dem Namen Beratungsbüro für entsandte Beschäftigte begann. Trägerin des Bema ist mittlerweile Arbeit und Leben Berlin-Brandenburg gGmbH, eine gemeinsame Bildungsorganisation des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) und der Volkshochschulen. 17 Berater*innen bieten elf verschiedene Sprachen an.

Was arbeitsrechtliche Beratung angehe, sei Berlin in vielen Bereichen Vorreiter, erklärt Senatorin Kiziltepe. Als erstes Bundesland habe man nicht nur die Beratungsstelle zu verzeichnen, sondern seit diesem Jahr auch eine Schutzwohnung für ausgebeutete Menschen. »Gerade die Menschen, die neu in Berlin sind, die die Sprache nicht sprechen, unser Arbeitsrecht und die Beratungsangebote nicht kennen, geraten in prekäre Arbeitsverhältnisse und können so leichter ausgenutzt und ausgebeutet werden«, sagt Kiziltepe. Katja Karge, Vorsitzende des DGB Berlin-Brandenburg, sagt, das Angebot in Berlin sei dringend nötig.

Das Bema bietet niedrigschwellige, mehrsprachige arbeitsrechtliche Beratung abseits behördlicher Strukturen und so auch unabhängig vom Aufenthaltsrecht an. »Das ist ein Angebot, dem viele Betroffene mehr vertrauen als staatlichen Stellen«, so Kiziltepe. Seit der Gründung fanden 40 000 Beratungen statt, allein im vergangenen Jahr konnte nach 5500 Beratungen erreicht werden, dass knapp 200 000 Euro an ausstehenden Löhnen ausgezahlt werden. Fijarczyk sagt, eine Dunkelziffer kenne sie nicht, aber jede Person in der Beratung berichte von weiteren Betroffenen.

In einem Fall verhalfen die Berater*innen 14 rumänischen Bauarbeitern zu insgesamt 26 500 Euro Lohn, der diesen schlichtweg nicht ausgezahlt worden war. 46 Kollegen von derselben Baustelle setzten ihre Lohnansprüche nicht durch und reisten zurück in ihr Heimatland. Informationen über die Beratungsstelle erhalten Beschäftigte von Partnern des Bema, wie etwa Botschaften, Selbstorganisationen von Migrant*innen, die Rechtsantragsstelle des Arbeitsgerichts oder NGOs.

»Wir brauchen diese Fachkräfte, aber wir müssen genau darauf gucken, wer da eigentlich der Geldverdiener ist.«

Katja Karge Deutscher Gewerkschaftsbund Berlin-Brandenburg

Ein aktuelles Thema, das die Bema beschäftigt, sind Lieferdienste. Dieses Geschäftsmodell »stützt sich systematisch auf prekäre Beschäftigungsformen«, sagt Cansel Kiziltepe. So berichtet Monika Fijarczyk von einem ausländischen Studenten, der als Fahrradbote arbeitete. Nach einem Unfall wurde ihm der Zugang zur Firmen-App und damit zu seinen arbeitsrechtlichen Unterlagen sowie dem Kontakt mit dem Arbeitgeber verwehrt. Erst mithilfe des Bema konnte er den Lohn einklagen, der ihm nach dem Unfall nicht mehr gezahlt worden war.

»Bei den Lieferdiensten haben wir nicht nur deprimierende Beschäftigungen«, sagt Katja Karge vom DGB, »sondern wir kommen juristisch kaum noch ran, was die klassische Interessenvertretung angeht.« Aus den Beratungen habe man so eine politische Handlungsoption gezogen, nämlich eine neue Definition des Betriebsbegriffs, der auch die Anstellung bei Subunternehmen oder als »pseudofreie« Angestellte umfasst.

Die gewerkschaftliche Verantwortung gehe einher mit einer gesellschaftlichen, erklärt Katja Karge. »Wir wissen, dass diese Menschen in den Betrieben in der Regel die Drecksarbeit machen, in der Regel unter miserablen Bedingungen und mit miserablen Verträgen, wenn sie überhaupt welche haben.« Man wisse auch, dass diese Art von Beschäftigung alle anderen unter Druck setze. »Wenn sich diese Art von Systematik durchsetzt, trifft das früher oder später auch unsere anderen Beschäftigten.«

Das Ausnutzen von Unkenntnis und Zwangslagen hat auch System, wenn es um die Verschuldung von Arbeitskräften geht. Irian Lazarova berichtet von zwei philippinischen Beschäftigten im Pflegebereich. Im Arbeitsvertrag wurden ihnen 8000 Euro Schulden für Vermittlung und Transport angedroht, sollten sie kündigen. Über die Unrechtmäßigkeit dieses Anspruchs klärte die Beratung auf. Viele vietnamesische Auszubildende, die über die 2024 beschlossene Fachkräfte-Vereinbarung für die Pflegeausbildung nach Deutschland kommen, sind ebenfalls betroffen.

»Wir brauchen diese Fachkräfte, aber wir müssen genau darauf gucken, wer da eigentlich der Geldverdiener ist«, sagt Karge. »Wir müssen leider immer wieder beobachten, dass Arbeitgeber alle möglichen Chancen nutzen, um auf Kosten von Beschäftigten, die sich hier nicht auskennen, Geld zu verdienen.«

Irina Lazarova zieht zum Jubiläum der Beratungsstelle Bilanz: »Was wir aus den letzten 15 Jahren lernen: Arbeitsrechtliche Beratung ist kein Nice-to-have. Sie ist ein zentraler Baustein von Integration, Gerechtigkeit und für die Verteidigung sozialer Standards.« Das ist auch wichtig für die künftige Förderung des Bema.

Die 1,2 Millionen Euro jährlich wurden bis 2025 zu 100 Prozent vom Berliner Senat übernommen. Senatorin Kiziltepe nennt das Angebot mit Blick auf die Förderung unverzichtbar, verspricht aber noch nichts vor der Haushaltsrunde nächste Woche. Karge sagt dazu: »Wir hätten es natürlich am allerliebsten, dass das eine strukturelle Forderung ist, die nicht mehr befristet ist.« Mit Blick auf die nächste Wahl in Berlin wolle man mal sehen, wie da die Chancen stünden.

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