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Lieferando: »Wir werden diesen Konflikt weiterführen müssen«
Beim Lieferdienst Lieferando wird gestreikt. Gewerkschaftssekretär Veit Groß über den Kampf gegen Outsourcing und die Zukunft der Branche.
Herr Groß, für den kommenden Donnerstag hat die Gewerkschaft NGG die Beschäftigten des Lieferdienstes Lieferando in Berlin zum eintägigen Streik aufgerufen. Warum?
Es gibt verschiedene Dimensionen. Wir wollen weiterhin einen Tarifvertrag über Löhne und Arbeitsbedingungen. Lieferando nach wie vor nicht. Das zweite ist, dass bundesweit 2000 festangestellte Fahrerinnen und Fahrer entlassen werden sollen, insgesamt etwa 20 Prozent. Die Lieferung übernehmen undurchsichtige Subunternehmensstrukturen, wir sagen Schattenflotten. Kuriere werden dort oft in bar bezahlt und behandelt wie Tagelöhner. Für die Gekündigten wollen wir einen Sozialtarifvertrag, in dem unter anderem Abfindungen geregelt werden könnten. Auch das lehnt Lieferando bislang ab. Wir hoffen darüber hinaus auf politische Aufmerksamkeit. Die Subunternehmensstrukturen legen das Immunsystem lahm, das wir gegen Ausbeutung haben: Betriebsräte, Gewerkschaften, staatliche Kontrollbehörden. In der Fleischbranche hat der Gesetzgeber die Fremdvergabe verboten, wir wollen das gleiche für die Lieferdienstbranche.
Statt mit der Gewerkschaft redet das Unternehmen mit den Gesamtbetriebsräten. Wo stehen diese Verhandlungen?
Es gibt Fortschritte: Für die Leute, die ihre Stelle sofort verlieren, wird sofort eine Abfindung gezahlt. Sollte die im Sozialplan verhandelte Abfindung höher ausfallen, bekommen sie die Differenz. Allerdings ist ein Sozialplan gesetzlich vorgeschrieben. Deswegen ist es kein Entgegenkommen, dass Lieferando mit dem Gesamtbetriebsrat redet.
Sie schreiben, Lieferando plane in Zukunft weitere Schließungen und Kündigungen. Wie kommen Sie darauf?
Lieferando weigert sich komplett, eine Zukunftsklausel zu unterschreiben, mit der sie die restlichen Beschäftigten absichern würden. Deshalb befürchten wir, dass Lieferando den kompletten Betrieb auf die Schattenflotten umstellen könnte. Das ist zumindest unsere Arbeitshypothese.
Ab wann würden Sie von einem erfolgreichen Streik sprechen?
Wenn die Politik entscheidend reagieren würde, also wenn die Arbeits- und Sozialministerkonferenz im November sich für ein Direkteinstellungsgebot in der Lieferdienstbranche ausspricht. Und wenn Lieferando sich endlich mit uns an einen Tisch setzt. Mit einem Tarifvertrag könnten wir gemeinsam eine Allgemeinverbindlichkeit beantragen und bessere Arbeitsbedingungen auch bei Konkurrenten wie Wolt und Uber Eats erzwingen.
In Berlin beschäftigt Lieferando etwa 1800 Kuriere, wie viele werden streiken?
Unser Ziel ist, den Auslieferbetrieb zu stören, also eine deutlich dreistellige Anzahl von Beschäftigten. Da sind wir sehr zuversichtlich, die Rückmeldungen sind gut.
Veit Groß ist Sekretär der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) Berlin-Brandenburg. Der promovierte Historiker kommt ursprünglich aus Süd-Deutschland.
Dass sich Lieferando danach mit Ihnen an einen Tisch setzen wird, ist nicht sehr wahrscheinlich. Wie wird es weitergehen?
Wir werden diesen Konflikt weiterführen müssen. Wir sehen diese Branche als wichtiges Konfliktfeld, auf dem entschieden wird, ob sich neue Methoden durchsetzen, mit denen Arbeitgeber deutsches Arbeitsrecht, das Gewerkschaften über 150 Jahre erkämpft haben, zur Makulatur machen. Jeder sollte sich klar machen: Meine Betroffenheit kommt nicht allein dadurch, dass die Person ausgebeutet wird, die mir die Pizza bringt. Die Betroffenheit kommt dadurch, dass ich ja auch ein Arbeitsverhältnis habe, das ich benutze, um meine Pizza zu bezahlen. Dieses Arbeitsverhältnis wird auch angegriffen.
Glauben Sie Lieferando, dass sich das Unternehmen verschlanken muss, um mit der Konkurrenz mitzuhalten?
Nein. Mit der Übernahme durch den neuen Investor sollen entsprechende Zahlen geliefert werden. Dabei geht es nicht darum, die Branche nachhaltig auf ein solides Fundament zu stellen.
Das reine Liefergeschäft ist bisher defizitär gewesen. Geht das überhaupt nachhaltig?
Das Geschäft von Lieferando ist wirtschaftlich. Nur einen kleinen Teil der Lieferungen erledigt Lieferando selbst. Der Rest wird von den Restaurants übernommen, die für den Anschluss an die App bezahlen. Das dichte Logistiknetz aus eigenen Fahrern kostet Geld, sorgt aber durch Sichtbarkeit für Werbewirkung, was die Restaurants anzieht.
Man könnte auch zu dem Punkt kommen, dass das Liefergeschäft mit guten Beschäftigungsbedingungen nicht wirtschaftlich zu betreiben ist.
Ich glaube, dass Menschen zwei Euro Liefergebühr für eine Pizza zahlen würden, wenn klar wäre, dass der Rider anständig sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist, seine Stunden bezahlt werden und er Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Urlaub bekommt.
Wenn sich Beschäftigte in Berlin artikulieren, dann häufig über das unabhängig von der NGG agierende Lieferando Workers Collective. Im Frühjahr gab es bei Uber Eats einen Streik, der kaum Beachtung fand, weil er von den Beschäftigten selbst organisiert wurde. Warum, wenn die Gewerkschaft doch schon so lange eigentlich die Branche beobachtet, warum tun Sie sich dann immer noch schwer damit?
Das ist in gewisser Weise ein berlinspezifisches Problem. Das sehen wir in anderen Städten nicht. Dennoch: Da beißt die Maus keinen Faden ab, dass wir erst mal lernen mussten, und wir lernen da auch immer noch, Beschäftigte zu organisieren, die keine festen Betriebsstätten haben, kaum Sprachkenntnisse haben, sich wenn überhaupt digital vernetzen, in Betrieben mit hoher Fluktuation und prekären Arbeitsbedingungen.
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Was haben Sie gelernt?
Das funktioniert über persönliche Netzwerke, besonders aber über Whatsapp-Gruppen. Unsere Ehrenamtlichen wirken dort als digitale Multiplikatoren. Die müssen schnell ansprechbar sein und auch mal ein Share-Pic erstellen können.
Kann ich mir das so vorstellen: Es gibt digitale Kanäle der NGG und Ihre Vertrauensleute schwirren in den Kanälen der Unternehmen rum und versuchen, Verbindungen herzustellen?
Genau, aber nicht nur als Agitatoren. Die Menschen, die sich gewerkschaftlich engagieren, müssen auch als Ansprechpartner wahrgenommen werden. Es ist hilfreich, wenn jemand auch bei einer aufenthaltsrechtlichen Frage ein Schreiben übersetzen kann. Das sind Einzelheiten, die Vertrauen herstellen. Für uns als Organisation ist es wichtig, diese Themen zu kennen. Dafür sind die digitalen Vernetzungsstrukturen, aber auch unsere Betriebsräte unerlässlich.
Das LWC ruft dazu auf, sich am Streik zu beteiligen. Mussten Sie auch lernen, miteinander statt gegeneinander zu arbeiten?
Wir arbeiten grundsätzlich mit allen Gruppen zusammen, die sich für die Ziele einsetzen, die die NGG verfolgt. Es freut uns, wenn Beschäftigte sich zusammenfinden und sich darin bestärken, für ihre Interessen auf die Straße zu gehen und sich am Streik zu beteiligen. Es ist immer wichtig, dass man als Gewerkschaft bestehende Kanäle, bestehende Strukturen versucht aufzunehmen und deren Stärken und Informationen auch zu inkorporieren und gleichzeitig ernst zu nehmen, warum sie sich anders organisieren. Sich das anzuschauen, ist immer die Basis, um in einem Betrieb als Gewerkschaft auch ansprechbar zu sein und was für die Leute tun zu können.
Verdi zieht für strategisch wichtige Kampagnen punktuell Kräfte zusammen und engagiert Organizing-Dienstleister. Wie läuft das in der NGG?
Wir hatten vereinzelt Projektstellen für Organizing-Projekte in der Lieferdienstbranche. Aber 20 hauptamtliche Stellen auf das Problem zu schmeißen, die dann irgendwann wieder weg sind, bringt nichts. Um langfristig etwas aufzubauen, müssen wir unsere Ehrenamtlichen befähigen und das Projekt tarifvertraglich und betriebsverfassungsrechtlich auf ein Fundament stellen. Gewerkschaft funktioniert vor allem über starkes Ehrenamt. Um eine Basis im Betrieb aufzubauen, helfen dir normalerweise fünf Hauptamtliche, die ja auch alle bezahlt und finanziert werden müssen von unseren Mitgliedsmitteln, weniger als Kolleginnen und Kollegen, die im Betrieb ernstgenommen und gekannt werden.
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