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- EU-Abgeorndete Gaby Bischoff (SPD)
»Wir können keine Kanonen-oder-Butter-Debatte aufmachen«
Die SPD-Europaabgeordnete Gaby Bischoff hat eine deutlich andere Einschätzung der Lage der EU als Kommissionschefin von der Leyen
Am Mittwoch hat Ursula von der Leyen ihre diesjährige Rede zur Lage der EU vor dem Europaparlament gehalten. Wie zufrieden sind Sie mit den Botschaften der Kommissionspräsidentin?
Insgesamt bin ich enttäuscht. Viel Rhetorik zu Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit, aber im Bereich Arbeit und Soziales bleibt es leer: keine neuen konkreten Initiativen, der von ihr angesprochene »Quality Jobs Act« bleibt bisher ein Schlagwort ohne Inhalt. Alltagsfragen wie faire Löhne, sichere Arbeit und hohe Lebenshaltungskosten wurden nicht ausreichend adressiert. Wohnen wurde mit einigen konkreten Schritten angesprochen – das ist zu begrüßen, reicht aber nicht als soziale Gesamtstrategie. Jetzt braucht es greifbare Vorschläge für dringend notwendige Rechtssetzung und Finanzierung für ein starkes soziales Europa, keine leeren Versprechen.
Generell: Was kritisieren Sie an der Politik der EU-Kommission?
Ich kritisiere vor allem, dass die Kommission im Moment zu schwach agiert, sowohl innerhalb der EU als auch in der Welt. Gerade die Vorschläge für den neuen EU-Haushalt – und damit für die politischen Prioritäten – gehen nicht in die richtige Richtung. So ist die Zerschlagung des Europäischen Sozialfonds Plus geplant. Dieser Fonds ist aber das wichtigste arbeitsmarkt- und sozialpolitische Instrument der EU. Gleichzeitig schwächt die Kommission das Europaparlament, indem sie immer mehr Entscheidungsverfahren wählt, bei denen wir als Abgeordnete nicht ordentlich involviert werden. Was wiederum die demokratische Kontrolle europäischer Politik schwächt.
Gaby Bischoff ist seit 2019 Europaabgeordnete der SPD. Sie arbeitet unter anderem in den Ausschüssen für Beschäftigung und Soziales sowie für konstitutionelle Angelegenheiten und ist Mitglied im Sonderausschuss zur Wohnkrise (HOUS). Sie war maßgeblich beteiligt an der Erarbeitung der Richtlinie zur sozialen Koordinierung, die Arbeitnehmer*innen sozialen Schutz bei »Auslandseinsätzen« geben soll. Zudem ist Bischoff stellvertretende Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion im EU-Parlament (S&D).
Sie sprechen von einer Schwächung Europas. Was verstehen Sie darunter konkret?
Schauen Sie sich an, in welcher Position wir mit den USA über die Zölle verhandelt haben, diesen sogenannten Deal. Wir haben in vielen Punkten klein beigegeben. Ebenso sind wir erpressbar auf der Seite der Sicherheitspolitik, haben es nicht geschafft, eine starke europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf den Weg zu bringen. Wir wursteln uns weiter so durch. Und das schwächt uns. Dabei sind wir ein starker Raum, mehr als 450 Millionen Menschen. Wir können wirklich stärker auftreten, als wir das im Moment tun. Aber dafür bräuchte es institutionelle Reformen.
Stichwort gemeinsame Sicherheitspolitik. Die ist doch sehr stark auf die militärische Ebene fokussiert. Die ganze Flanke der Diplomatie fehlt. Das gehört aber ebenso zu einer sinnvollen Sicherheitspolitik.
Na ja, als Parlament haben wir Sicherheitspolitik durchaus breiter definiert als nur militärisch. Das haben wir auch sehr klar der Kommission und den Mitgliedstaaten mitgegeben. Aber wir haben als Parlament auch den Vorschlag gemacht, als ersten Schritt ein gemeinsames europäisches Beschaffungswesen für den Verteidigungssektor einzurichten. Das würde auch bedeuten, dass wir viel Geld einsparen könnten, das wir in andere Bereiche wie Cybersicherheit investieren könnten. Vielleicht hätten wir dann auch militärische Systeme, die europäisch kompatibel sind, was heute in vielen Bereichen nicht der Fall ist. Wie es derzeit läuft, mästen wir nur die jeweilige nationale Verteidigungsindustrie.
Ein zentrales Arbeitsgebiet von Ihnen ist die Sozialpolitik. Da müssten Ihnen doch die Summen, die in den Verteidigungshaushalt fließen, in der Seele wehtun.
Wir müssen klüger in Verteidigung investieren. Dass Europa selbst mehr für Sicherheit und Verteidigung aufbringen muss, ist, glaube ich, klar. Aber was man nicht machen kann, ist, eine Kanonen-oder-Butter-Debatte aufzumachen. Wir brauchen frisches Geld für Sicherheit und Verteidigung. Das kann aber nicht auf Kosten des Sozialen gehen – das wäre explosiv.
Führt die Sozialpolitik in der EU nicht ohnehin ein Mauerblümchen-Dasein?
Das ist ja eine Suggestivfrage! Also wir als Abgeordnete haben uns sehr stark für eine soziale Dimension der europäischen Politik eingesetzt. Wir haben in der letzten Legislaturperiode wirklich substanzielle Bausteine dem sozialen Europa zufügen können. Gerade was armutsfeste Mindestlöhne anbelangt, aber auch faire Arbeitsbedingungen in der Plattformwirtschaft. Und das zeigt für mich: Es geht. Aber wir haben weiter große Herausforderungen. Wir müssen die enorme Arbeitsausbeutung insbesondere bei Subunternehmerketten stoppen und Arbeitsmobilität fairer gestalten. Wir haben nicht genügend Kontrollen der Arbeitsbedingungen in Sektoren wie im Bau- oder im Transportbereich, wo es teils brutale Ausbeutung gibt. Nicht zuletzt brauchen wir klare Leitplanken für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Arbeitswelt und ein »Recht auf Abschalten«. Das alles lässt sich aber nicht mehr national regeln, sondern muss europaweit gelten.
Mindestlohn, Regulierungen für Plattformarbeit – das geht alles auf das Europaparlament zurück. Im Rat, dem Gremium der Regierungen, fallen viele dieser Initiativen durch. Auch die Richtlinie zur sozialen Koordinierung ist blockiert worden. Frustriert Sie das?
Das muss man sportlich nehmen. Das ist so, wenn man auf Mehrheiten angewiesen ist. Dann muss man eben einen neuen Anlauf machen. Wir haben politische Vorschläge gehabt, die haben 16 Jahre bis zur Umsetzung gebraucht. Und an der Mindestlohnrichtlinie und der Plattformrichtlinie sieht man ja auch, dass wir am Ende erfolgreich waren. Und ja, die von Ihnen angesprochene Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme bleibt eine enorme Herausforderung. Denn die Mobilität innerhalb Europas wächst. Wir wollen dazu mit dem Rat eine Lösung finden. Wir können doch den vielen Menschen, die grenzüberschreitend arbeiten, nicht die Message geben: Tut uns leid, wir können nichts mehr machen für euch, weil Rat und Parlament sich nicht einigen können. Aber klar, wenn es um viel Geld geht – und das ist so bei Arbeitslosengeld, Mutterschutzgeld und vielem mehr– dann sind die Verhandlungen tatsächlich schwierig.
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Teuer ist auch das Wohnen in Europa. Es gibt seit einigen Monaten einen Sonderausschuss im EU-Parlament dazu, Sie sind dort sehr aktiv. Wie wichtig ist das Thema?
Die Wohnraumkrise ist eine der zentralen sozialen Fragen überall in Europa im Moment. Dass Menschen wirklich bezahlbaren Wohnraum finden und dass sie ihn auch dort finden, wo sie arbeiten und ihren Lebensmittelpunkt haben. Das war auch der Grund, warum wir als S&D-Fraktion so gepusht haben, dass wir diesen Sonderausschuss bekommen und auch ein zuständiges Mitglied der EU- Kommission dafür benannt wurde. Wir müssen gucken, wo sind die Stellschrauben, wo wir etwas ändern können. Wir haben zwar schon eine Politik gegen Wohnungslosigkeit, aber hier müssen wir stark intensivieren.
Was heißt das genau?
Dass wir beispielsweise bei den staatlichen Beihilfen für bezahlbaren Wohnraum den Kommunen mehr Spielraum geben, den Bau bezahlbaren Wohnraums zu unterstützen. Wir haben uns dazu auch die verschiedenen Förderprogramme angeschaut. Diese sind sehr zerstreut und teilweise undurchsichtig. Das muss gebündelt werden und es müssen auch auf europäischer Ebene zusätzliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.
Das klingt auch nach viel Geld. Glauben Sie, dass die Mitgliedstaaten da mitspielen?
Ich glaube, dass jeder begreift, was für ein sozialer Sprengstoff darin liegt, wenn wir es nicht schaffen, das Problem zu lösen.
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