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Vom Straßenkampf zur Bewegung
Am 10. September rief »Bloquons Tout« zu politischen Aktionen gegen Frankreichs Regierung auf. Über die Bilanz wird nun gerungen
Es ist eine Binsenweisheit: Erst kommt der Kampf auf der Straße, dann kommt der Kampf um die Deutung und Bedeutung dessen, was auf der Straße passiert ist. Jede Position wird sofort mit ihrem Gegenteil konfrontiert, beide wiederum mit abweichenden Meinungen. Die sich durchsetzende Interpretation bestimmt, ob die Aktion auf der Straße ein Erfolg oder ein Fehlschlag war. Dies entscheidet darüber, ob die Aktion fortgeführt wird, der Veränderung bedarf oder als untauglich verworfen wird. War der 10. September also ein Erfolg oder ein Misserfolg?
Ein politischer Neuling
An dem Tag fand der Aktionstag der Bewegung »Bloquons Tout« (»Blockieren wir alles«) statt, jenes Neulings auf der politischen Bühne in Frankreich, der als Schöpfung der virtuellen Welt der sozialen Medien, ohne Gesichter und Organisationen die reale Welt verändern will.
Für den am Montag als Ministerpräsident abgelösten François Bayrou stand schon vorab fest, dass der 10. September ein Fehlschlag werden würde. Er ging von »bis zu 100 000« Demonstrierenden an jenem Tag aus, was »nicht viel für Frankreich« sei. Seinen Innenminister Bruno Retailleau, Hoffnungsträger der Konservativen für die Präsidentschaftswahlen 2027, schien er damit nicht zu überzeugen. Dieser erließ nicht nur eine Order an alle Präfekten der Departements, bei Blockadeversuchen unverzüglich und konsequent einzuschreiten, sondern mobilisierte auch 80 000 Polizisten, 6000 davon allein in Paris.
Sehr viele dieser Einsatzkräfte kamen aus den in Frankreich berüchtigten Spezialeinheiten, die in Kampf- und Schutzmontur und teilweise vermummt auftreten. Auch dies ist Teil des Kampfes um die künftige Interpretation: Wenn eine solch hohe Zahl an Beamten in dieser Ausrüstung eingesetzt wird, dann erwarten die Behörden gewaltsame Auseinandersetzungen und eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch die Demonstrierenden.
Natürlich wird folgerichtig in den kommenden Wochen damit gearbeitet werden, dass es (nach bisherigem Stand) zu 473 Festnahmen am 10. September kam, 206 davon in Paris. Die Demonstrierenden wiederum werden mit den Bildern von überzogener und anlassloser Polizeigewalt kontern, die sich aus ganz Frankreich in Windeseile mittels der sozialen Medien verbreiten. Sie werden auf Falschmeldungen verweisen wie die aus Paris, wo angeblich Demonstrierende ein koreanisches Restaurant in Brand gesetzt haben sollten. Sehr schnell stellte sich heraus, dass der Urheber des Feuers die Polizei selbst gewesen war – »versehentlich«. Die Demonstrierenden dagegen hatten eine Rettungsgasse gebildet und der Feuerwehr applaudiert.
Das Feilschen um die Zahlen
Was sind nun die tatsächlichen Teilnehmerzahlen, die die gegensätzlichen Interpretationen stützen könnten? Man weiß es nicht. Der Innenminister gibt die Zahl von 197 000 an den unterschiedlichen Aktionen beteiligten Menschen an. Natürlich soll mit einer solchen Zahl der Eindruck erweckt werden, dem liege eine genaue Zählung zugrunde. Andererseits räumt er damit implizit ein, dass die Zahl der Mobilisierten doppelt so hoch war wie von seinem Ministerpräsidenten erwartet. Die Gewerkschaft CGT, die ebenfalls zu den Protesten aufgerufen hatte, sprach in einer ersten Schätzung am Mittwochabend von rund 250 000 Aktiven.
Manuel Bompard, nationaler Koordinator der ebenfalls die Proteste unterstützenden Partei La France Insoumise (LFI), kam nach Sichtung der lokalen und regionalen Meldungen zu der Einschätzung, es habe sich um rund eine halbe Million Menschen gehandelt: 150 000 in Paris, 80 000 in Marseille, 40 000 in Lille, je 30 000 in Toulouse und Grenoble, bis hin zu jenen knapp 100 Radfahrern, die in der Stadt Chambery immer wieder den gleichen Kreisverkehr umrundeten und damit den Verkehr lahmlegten.
Welche Zahl auch immer für die Realität gehalten wird, es bleibt der Eindruck, dass die Mobilisierungsfähigkeit des Neulings auf der politischen Bühne, der »Bewegung des 10. September«, deutlich höher war als von der Regierung ohnehin schon befürchtet. Deren Besorgnis, es könne eine sich verstetigende Bewegung entstehen, verstärkt sich zusätzlich durch die Ankündigung der Intersyndicale, des Zusammenschlusses aller Gewerkschaften, für einen Generalstreik am 18. September. Das Horrorszenario der Regierung ist das Entstehen einer sozialen Bewegung wie Ende 1995 oder eine Neuauflage der Gelbwesten.
Delegitimierung der Bewegung
Die bisherige Argumentation der noch amtierenden Regierung, um eine Ausweitung der sozialen Basis der Proteste und ihre Verstetigung zu behindern, besteht aus zwei erprobten Mitteln. So erklärte Bruno Retailleau im Gespräch mit der Zeitung »Le Figaro«: »Diese Mobilisierung hat nichts mit einer Mobilisierung der aktiven Staatsbürger zu tun. Sie ist durch die extreme Linke und die Ultra-Linke verändert worden, gefangen worden und besetzt worden.« Die Bewegung wird als Instrument einer minoritären politischen Richtung eingestuft, von der sich die »Normalbürger« lieber fernhalten sollen.
Im zweiten Schritt wird dann die angebliche Gefahr durch die Aktiven der Bewegung beschworen. Wieder Retailleau: »Auf der einen Seite steht jenes mutige Frankreich, jenes der arbeitenden Frauen und Männer, und auf der anderen Seite das Frankreich der Sabotage mit seinen schwarzen Vermummungen. Unsere Ordnungskräfte sind zur Stelle, um unsere Mitbürger zu schützen.« Es ist die Politik mit der Angst.
Tatsächlich ist es, erst recht für französische Verhältnisse, zu einer relativ geringen Zahl an Ausschreitungen durch Demonstrierende gekommen. Die weit überwiegende Anzahl der Aktionen blieb friedlich. Eben bis auf jene Fälle, in denen die Polizei provozierte, Tränengas, Schlagstöcke und Wasserwerfer einsetzte und damit zahlreiche Verletzte verursachte. Es ist auffällig, dass solche überharten Einsätze besonders häufig gegen Aktionen von Schülerinnen und Schülern stattfanden.
Wie geht es weiter? Die Bewegung 10. September bewertet den Aktionstag als Erfolg. Die starke Beteiligung an den Vorbereitungstreffen in vielen Orten wird dazu führen, dass aus der virtuellen eine reale Basisbewegung wird. Sie wird den Generalstreik am 18. September unterstützen. Die Vernetzung der unterschiedlichen Akteure ist absehbar. Weitere lokale und überregionale Aktionen werden folgen. Ein neuer Spieler ist auf dem Platz, der den Spielverlauf verändern kann.
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