Cancel Culture mit doppeltem Boden

Schon wieder steht ein Chefdirigent der Münchner Philharmoniker am Pranger

Lahav Shani, künftiger Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, wird in Belgien für das »genozidale Regime« in Tel Aviv in Haftung genommen.
Lahav Shani, künftiger Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, wird in Belgien für das »genozidale Regime« in Tel Aviv in Haftung genommen.

Das Flanders Festival Ghent hat die Münchner Philharmoniker und ihren künftigen Chefdirigenten Lahav Shani für ein geplantes Konzert in der St. Bavo-Kathedrale am 18. September ausgeladen. Die Veranstalter begründen dies damit, dass sich der in Tel Aviv geborene Dirigent, der auch das Israel Philharmonic Orchestra leitet, womöglich nicht klar genug gegen das »genozidale Regime« in Israel positioniert habe – beziehungsweise die belgische Festivalleitung dies derzeit nicht angemessen überprüfen könne. Das ist tatsächlich kritikwürdig, denn so viel Zeit sollte sein.

In Deutschland stößt diese Entscheidung von rechts bis links auf scharfe Kritik: Sie soll antisemitisch sein, also auf dem Jüdischsein des Dirigenten gründen. Weiter wird betont, Shani habe sich durchaus kritisch zum Gaza-Krieg geäußert und wiederholt seine Überzeugung bekundet, dass auch im Nahost-Konflikt eine friedliche Lösung erreichbar sei. Er soll auch mit seinem Mentor Daniel Barenboim befreundet sein – dessen Sohn und Violinist Michael ein bekannter Unterstützer der Palästina-Soldarität ist.

Tieferliegende Gründe für die Absage erfährt man aus Medien in Flandern. Demnach wurde das Ensemble 1936 als Palästinensisches Orchester gegründet, aber nach der Gründung des Staates Israel – und der Nakba – im Jahr 1948 in Israel Philharmonic Orchestra umbenannt. Seitdem spielt es nicht nur Sonderkonzerte für die israelische Armee, sondern tritt auch weltweit als kultureller Botschafter des Staates auf. Die Ausladung sei also ein klares Signal gegen die Komplizenschaft, für die nun mal der Chefdirigent verantwortlich ist.

Diese Erklärung wird die deutschen Kritiker*innen, die auch mit der Kampagne »Boykott–Divestment–Sanctions« (BDS) nichts anfangen können, nicht beruhigen. Die ist aber auch nicht per se antisemitisch – sie wird seit ihrer Gründung 2005 auch von jüdischen Israelis getragen und will zuvorderst den israelischen Staat wegen dessen Diskriminierung von Palästinenser*innen schwächen, nicht aber seine Bürger*innen.

Übrigens hat der Vorfall aus Ghent auch eine Pointe: Waleri Gergijew, der frühere Chefdirigent der Münchner Philharmoniker wurde ebenfalls gecancelt – aber in Deutschland. Münchens Stadtrat fand vor drei Jahren, dass er sich nicht genug von Wladimir Putin und seinem Krieg gegen die Ukraine distanziere. Warum sollen für seinen Nachfolger Lahav Shani andere Maßstäbe gelten?

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