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Ganz Berlin hasst die Neue-Musik-Polizei
Ein Glücksgriff: Das Musikfest Berlin bringt Werke von Helmut Lachenmann zu Gehör
»Wenn Sie über eine Wiese gehen und einer Weinbergschnecke aufs Haus treten, dann haben Sie praktisch eine Existenz ruiniert. Es gibt einen ganz kleinen Pianissimo-Knacks, den Sie hören.« Man kann dieses Zitat des Komponisten Helmut Lachenmann als ein Plädoyer für eine Art Hell-Hören verstehen – die Neubestimmung eines Hörens, das sich auch kleinsten Geräuschen gegenüber sensibel verhält. Der Dirigent Vladimir Jurowski hat in seiner kurzen Einführung zum Konzert mit Werken Lachmanns und Schostakowitschs beim Musikfest Berlin auf den Schauspieler Denzel Washington zurückgegriffen, der als Ex-Agent Robert McCall in »The Equalizer 2« sagt, es gebe »zwei Arten von Schmerz auf dieser Welt: den Schmerz, der wehtut, und den Schmerz, der verändert.«
Zwischen diesen beiden Polen lässt sich das Werk des fast 90-jährigen Helmut Lachenmann verorten, dessen Werke einen Schwerpunkt des diesjährigen Musikfests Berlin bilden. Lachenmann gilt als Begründer einer »musique concrète instrumentale«, also einer »Klangproduktion, bei der das Instrument als Klangkörper bis in seine geheimsten Geräuschecken hinein ausgelotet und ausgereizt wird« (Guido Fischer). Er kreiert eine Wunderwelt der Geräusche. Er gibt nichts um Hörerwartungen und -gewohnheiten, ganz im Gegenteil, er provoziert den Status quo der »klassischen« Musikproduktion und revoltiert gegen jegliche Selbstgenügsamkeit in eingefahrenen Komfortzonen.
Lachenmanns kompositorische Grundhaltung ist subversiv, sie lässt sich nicht zuletzt auf seinen Lehrer und Freund Luigi Nono zurückführen, von dem er »ein klares Bewusstsein für die geschichtliche Relevanz und die Bedeutung des musikalischen Materials« sowie »eine kritische Reflexion der politischen Geschichte und Gegenwart« erwarb (Jörn Peter Hiekel).
Die Aufführung von »Ausklang«, der 1984/85 entstandenen »konzertanten Musik für Klavier und Orchester«, durch den phänomenalen Pianisten Pierre-Laurent Aimard und das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) unter Jurowski geriet zu einem Höhepunkt des gesamten Festivals. »Ausklang« ist ein Monster von einem Werk, für den Pianisten, für das Orchester, für das Publikum, nicht zuletzt auch durch seine Aufführungsdauer von etwa 50 Minuten – aber ein glücklich machendes Monster. Eine Komposition voller Kühnheit und Abenteuerlust, fordernd, verstörend und anregend (und zwar auf eine Art anregend, wie es vielleicht das Publikum der Uraufführung von Beethovens »Eroica« erlebt haben mag, also durchaus mit einer gewissen Überforderung).
»Helmut Lachenmann holt in die Musik hinein, was draußen in der Welt vor sich geht«, schreibt Steffen Georgi im Programmheft. Mit all den flirrenden Sounds, mit den zärtlichen Tönen des Klaviers, die nicht mehr verändert werden können und allmählich im Saal »ausklingen«, und mit dem gewaltigen Schlaginstrumenten-Apparat aus unter anderem vier Pedalpauken, zwei Bongos, sechs japanischen Tempelgongs, vier Tamtams, vier chinesischen Becken, 16 Woodblocks, drei kleinen Trommeln, sechs Tomtoms, drei Metallblöcken und zwei Donnerblechen, überwiegend Instrumente mit unbestimmten Tonhöhen, für deren Bedienung acht Schlagzeuger benötigt werden, erzeugt Lachenmann ein »Fortissimo der emotionalen Wirkung«, wie er selbst bemerkt. Die Zuhörer*innen sind ganz in Zeit und Raum gebannt, es gibt kein Draußen mehr, nur noch das Drinnen in Lachenmanns Klang- und Geräuschkosmos. Es entsteht ein »Sound-House«, wie Francis Bacon diesen utopischen Ort vor 400 Jahren in »Neu-Atlantis« genannt hat. Oder »free music in a capitalist society« – das sagte wiederum Iggy Pop.
Mit unzähligen, meist nur winzigen Gesten werden Inseln des Klangs und des Verklingens generiert, sei es im Klavier, sei es durch die schwebenden Klänge der Blasinstrumente im Mittelteil, wenn die Musiker*innen nur noch tonlos in ihre Instrumente blasen und Windgeräusche erzeugen; »wind« ist im Englischen ja die Bezeichnung der Blasinstrumente. Mit Einzeltönen und Clustern, mit Tonrepetitionen und schnell hingeworfenen, quasi fragmentarischen Figuren, mit kurzen Scharrbewegungen der Streicher und etlichen Klavier-Glissandi entwirft der Komponist eine »Musik mit Bildern«, wie das Werk im Untertitel bezeichnet ist.
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»Der Titel ›Ausklang‹ klingt relativ poetisch«, weiß Lachenmann. »Aber ich habe ihn ganz technisch gemeint. Ein Klavier spielt eigentlich permanent nur Ausklänge. Das heißt, die Töne verschwinden immer wieder, sie verklingen. Und dieses Element kann man ja nach allen Richtungen neu beleuchten, entwickeln.« Bis hin zu einem »Waldesrauschen«, das Lachenmann, der den Begriff »Rauschen« gegenüber »Geräusch« für seine Musik bevorzugt, für »eine wunderbare Erfahrung« hält.
Eine Woche zuvor führte das Ensemble Modern, erfreulicherweise Stammgast beim Musikfest, unter der Leitung eines der Dirigier-Granden der Neuen Musik, Sylvain Cambreling, Lachenmanns »Concertini« (2005) auf, das der Komponist für just dieses Ensemble geschrieben hat. »Concertini« kann als eine Art Opus summum der Beschäftigung Lachenmanns mit dem gesamten »ästhetischen Apparat« und dem musikalischen Vokabular der bürgerlichen Musik verstanden werden. Lachenmann, eine Vaterfigur des zeitgenössischen Komponierens, entpuppt sich hier erneut als Meister der geschabten und der krächzenden Töne; er nennt »Concertini« selbst ein »Scharrkonzert«.
»Concertini«, das heißt wörtlich übersetzt: mehrere kleine Concerti, und tatsächlich wird jedes Instrument wie in einem Solistenkonzert behandelt, mit ungewöhnlichen Spieltechniken, die den Spieler*innen höchste Virtuosität abverlangen. In diesem Werk nimmt Lachenmann neben »Geräuschhaftem« und Verfremdetem auch »das Unverfremdete, Vertraute, im weitesten Sinn Konsonante in den Griff« mit dem Ziel, »alles Klingende und klingend Bewegte in so verändertem Kontext ständig neu anzuleuchten« (Lachenmann ist auch ein hervorragender Autor und Musiktheoretiker).
Der Komponist bleibt dabei dem subversiven Umgang mit gängigen Erwartungshaltungen treu – was ihm die Neue-Musik-Polizei durchaus übelnimmt. Claus-Steffen Mahnkopf etwa kann 2009 in »Concertini« weder eine »inhaltsästhetische Idee« noch eine »Konzeption« erkennen. Galt Lachenmann früher stets als der deutsche Vertreter einer Ästhetik des Widerständigen, so sieht Mahnkopf in »Concertini« lediglich eine »perfektionistisch gespielte« und »ohne Risiko komponierte« Musik, die »süffig gehört werden« könne, »fast, als sei sie Richard Strauss« (und tatsächlich behauptet ein Zuhörer am Merchandising-Stand im Foyer, dass »Ausklang« die Fortsetzung der »Alpensinfonie« sei).
Sylvain Cambreling und das Ensemble Modern setzen mit ihrer Zugabe noch einen drauf, was die Provokation der Neuen Musik-Polizei angeht: Sie führen die Orchesterversion des »Marche fatale« auf, ein süffig-heiteres Paradestück, »eine unvorsichtig gewagte Eskapade«, eine »kleine stilistische Verirrung aus gegebenem Anlass«, wie Lachenmann selbstironisch anmerkt, ein hintersinniger Ohrwurm. Lachenmanns »musikalischer Spaß« gewissermaßen, in dem Sinn, dass »Marche fatale« »gar keine Komposition« ist: »Um es mit Ravel über seinen ›Bolero‹ zu sagen: Sie ›enthält keine Musik‹. Eine lässliche Sünde.«
Und wenn man an den ersten Teil des Konzerts mit aktuellen Werken von Lisa Streich denkt, die biederste Klamauktümelei mit zum Gähnen langweiligen Pseudoprovokationen verbindet, dann haben sich die Zuhörer*innen Lachenmanns vergnüglichen, kontrapunktisch gespickten Kehraus redlich verdient. Der Altmeister zeigt den Jungen noch einmal, was eine Harke ist.
Das neueste Orchesterwerk Lachenmanns führt schließlich das hr-Sinfonieorchester Frankfurt unter der beeindruckenden Leitung Matthias Hermanns auf: Die von 2016 bis 2018 entstandene und 2023 überarbeitete »Musik für 8 Hörner und Orchester« mit dem Titel »My Melodies«. »Es geht nicht um neue Klänge, es geht um Neues Hören«, vermerkte der Komponist dazu. »Aber um die Antennen auf diese Energie des Hörens zu stellen, musste ich den Blick auf die Melodie erstmal suspendieren.« Wer von »My Melody« aber Melodien erwartet, ist auf dem Irrweg. »Sie vermitteln ›my way of melodies‹ beim kreativen Umgang mit den klingenden Mitteln.« Und: »Ich insistiere immer darauf, meine Musik sei heiter. Der Begriff des ›Heiteren‹ schließt alle Aspekte des Ernsten mit ein. ›Heiter‹ ist nicht ›lustig‹; ›heiter‹ ist nicht ›komisch‹. ›Heiter‹, das kann sehr tief und komplex sein,« meinte Lachenmann 2018 in einem Interview zu »My Melodies«.
Die acht Hörner sitzen hufeisenförmig rund um den Dirigenten im Zentrum des Geschehens, sie sind jedoch keine Solisten, sondern quasi ein einziges homogenes und zugleich komplexes Instrument. Dem steht das ebenfalls zum Teil als ein Instrument agierende, dann wieder in seine Einzelteile zerlegte Orchester entgegen, das keineswegs nur zur Begleitung der Hörner dient. Immer wieder treten einzelne »Melodien« aus dem nichts hervor, flattern durch den Raum, vergehen. Lange Passagen bestehen nur aus dem gemeinsamen, tonlosen Atmen der Blasinstrumente – die Musik, die »Melodien« atmen im Raum. Das ist von einer ungeheuren Zärtlichkeit.
Auch in der »Kadenz« schließlich gibt es keine virtuosen, solistischen Selbstdarstellungen, »sondern in erster Linie ein energetisches Klangfeld, gestrickt aus skalenartigen Läufen, die sich zu chaotischen Wellenbewegungen bündeln« (Dirk Wieschollek im Programmheft). Eine atemberaubende Musik des Atmens.
Es war wunderbar, Helmut Lachenmann zu erleben, wie er bei allen Aufführungen seiner Werke in der Philharmonie persönlich zugegen war. Ein Glücksgriff des Musikfests, diesen Querschnitt aus Lachenmanns Werken zu präsentieren. Und es war schön zu sehen, welch hervorragende und unbedingt erhaltenswürdige Klangkörper die hiesigen Rundfunkanstalten betreiben, ob das RSB oder das hr-Sinfonieorchester, und mit welcher Intensität und Kompetenz sich diese Ensembles solch komplizierter Werke annehmen.
»Der Rest ist – Denken«, sagt Helmut Lachenmann.
Auf der Homepage der Berliner Festspiele kann noch bis zum 17. Oktober das Konzert des hr-Sinfonieorchesters abgerufen werden. Das MusikFest findet bis zum 23. September statt.
www.berlinerfestspiele.de
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