Neuer Staudamm: Jahrhundertprojekt in Tibet

China baut im Namen der Energiewende den weltgrößten Staudamm. Kritiker fürchten eine ökologische Katastrophe

  • Robert Lenz
  • Lesedauer: 5 Min.
Am Fluss Yarlung Tsangpo in Tibet hat China mit dem Bau des größten Wasserkraftwerks der Welt begonnen.
Am Fluss Yarlung Tsangpo in Tibet hat China mit dem Bau des größten Wasserkraftwerks der Welt begonnen.

In China werden Millionenstädte genauso wie Megaflughäfen in Rekordzeiten aus dem Boden gestampft. Züge sind pünktlicher und schneller als anderswo. Von einer Fahrradnation wurde das Reich der Mitte zum weltweit führenden Hersteller von E-Autos. Und in China ist alles ein paar Nummern größer als im Rest der Welt.

Die Liste der chinesischen Superlative wird in wenigen Jahren um ein Megaprojekt länger werden. Im Juli setzte Chinas Premierminister Li Qiang nämlich im Grand Canyon im Unterlauf des Flusses Yarlung Tsangpo in Tibet den ersten Spatenstich für den Bau des weltweit größten und ambitioniertesten Wasserkraftwerks samt Megadamm. Nach Fertigstellung des »Jahrhundertprojekts« (Li Qiang) in den 2030er Jahren soll die rund 170 Milliarden US-Dollar teure Anlage mit fünf Wasserkraftwerken etwa 300 Milliarden Kilowattstunden oder dreimal so viel Strom pro Jahr erzeugen wie der gigantische Drei-Schluchten-Damm im Yangtse-Fluss.

Der Yarlung Tsangpo hat seinen Ursprung im Gletschersee des Angsi-Gletschers. 1625 Kilometer fließt er durch das tibetische Plateau, bevor er sich im Namcha-Barwa-Bergmassiv in der »Großen Biegung« genannten U-förmigen Schleife durch eine der tiefsten Schluchten der Welt schlängelt und auf einer Länge von 50 Kilometern um 2000 Meter abfällt. Etwa 30 Kilometer weiter verlässt der Yarlung Tsangpo dann China, um als Brahmaputra 918 Kilometer durch Indien zu fließen. Nach dem Grenzübertritt nach Bangladesch heißt er Jamuna, bevor er sich nach weiteren 337 Kilometern mit dem Ganges vereint und in den Golf von Bengalen mündet. Mit einer Gesamtlänge von 2900 Kilometern ist also auch der Fluss mit den vielen Namen mega.

Brahmaputra und Jamuna sind die Lebensadern der beiden Länder, von denen das Wohlergehen und die Ernährung von insgesamt mehr als 100 Millionen Menschen abhängen. In Indien und Bangladesch warnen daher Umweltschützer, Fischer und Landwirte unisono vor potenziellen megamäßigen ökologischen Folgen durch die chinesische Talsperre. Sie befürchten Wasserknappheit vor allem während der Trockenzeit, ein wachsendes Hochwasserrisiko während des Monsuns und eine drastische Verringerung der nährstoffreichen Sedimente für eine fruchtbare Landwirtschaft.

Die Anlage soll dreimal so viel Strom pro Jahr erzeugen wie der gigantische Drei-Schluchten-Damm.

Nilanjan Ghosh und Sayanangshu Modak bezeichneten im Januar 2025 in einem ausführlichen Beitrag für das indische Magazin für Zeitgeschehen »The India Forum« die ökologischen Narrative als »alarmistisch«. Gosh ist Vizepräsident für Entwicklungsstudien und Direktor des Kolkata Centre der Observer Research Foundation und der Geograf Modak befasst sich an der Universität von Arizona mit Mensch-Umwelt-Beziehungen und ist Experte für Wassermanagement. Der Beitrag im »The India Forum« war eine Zusammenfassung ihrer 2023 im Fachblatt »International Journal of Water Resources Development« veröffentlichten Studie »Wasserpolitik zwischen China und Indien am Brahmaputra: Warum sollten harte Fakten die bestehende Rhetorik dominieren?«. Wissenschaftliche Daten zeigten nämlich, dass China weder den Fluss noch die Sedimentmenge »signifikant« beeinflussen könne. Den größten Teil des Wassers und dadurch auch der Sedimente für Brahmaputra/Jamuna und ihre Nebenflüsse lieferten die Monsunregenfälle. Messungen in Nuxia in Tibet hätten gezeigt, dass der Fluss im Schnitt 30 Millionen Tonnen Sedimente pro Jahr transportiere. Wenn er aber Bahadurabad in Bangladesch kurz hinter der indischen Grenze erreiche, betrage die Sedimentmenge 735 Millionen Tonnen, von denen das meiste aus Indien stamme.

Die wahre Gefahr geht für die beiden Experten von einem möglichen Versagen des Damms durch die hohe seismische Aktivität der Region aus. Ein weiteres großes Risiko stellten extreme Klimaereignisse wie Gletscherschmelze und Ausbrüche von Gletscherseen dar. Erst im März 2021 habe ein massiver Gletscherabsturz im Sedongpu-Flussbecken eine Sturzflut mit rund 50 Millionen Kubikmetern Geröll, Eis und Sediment ausgelöst. Im Grand Canyon des Yarlung Tsangpo sei in der Folge der Pegel um zehn Meter gestiegen und viele Messinstrumente eines Warnsystems seien zerstört worden. »Solche Extremereignisse können große Staudämme destabilisieren und zu katastrophalen Überschwemmungen flussabwärts führen«, warnen Gosh und Modak.

Indien und Bangladesch sehen den Staudamm auch als geopolitischen Schachzug Chinas zur Kontrolle der Wasserressourcen, um dessen Einfluss in Tibet und in der Region auszubauen. Der Baubeginn kurz nach der Suspendierung des Indus-Wasservertrags mit Pakistan durch Indien »zeugt von einem ausgeprägten Verständnis (Chinas) für die sich entwickelnde Dynamik der Wasserdiplomatie in Südasien, wo grenzüberschreitende Flusssysteme zunehmend zu Instrumenten staatlicher Macht werden«, heißt es im August 2025 in der Analyse des Megaprojekts im »Geopolitical Monitor«.

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China weist den Vorwurf, es strebe nach einer »Wasserhegemonie«, weit von sich. Der Staudamm diene ausschließlich dem Ziel, bis 2060 durch erneuerbare Energien CO₂-neutral zu werden, so die chinesische Führung. China gilt einerseits global als der größte CO₂-Emittent, andererseits aber auch als Weltführer bei Investitionen in Elektrotechnologie als Rückgrat der chinesischen Energiewende.

Das Staudammprojekt ist Teil von Präsident Xi Jinpings »xidiangdongson«-Politik (übersetzt etwa: »Energie aus dem Westen nach Osten schicken«) zur Stromversorgung der Metropolen im Osten. Seit 2000 habe Peking in Tibet mehr als 190 Wasserkraftwerke gebaut oder genehmigt, heißt es im »Geopolitical Monitor«. Tibet mit seinen hohen Bergen, tiefen Tälern und mächtigen Flüssen trage zu etwa einem Drittel der Stromproduktion durch Wasserkraftwerke bei. Hunderttausende Menschen seien für solche Projekte vertrieben, zahllose heilige buddhistische Stätten zerstört worden.

Widerstand gegen ökologisch und sozial bedenkliche Infrastrukturprojekte lässt China nicht zu. 2024 ließ die Führung in Peking Proteste gegen den Bau des Kamtok-Damms am Yangtse-Fluss niederschlagen.

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