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Lateinamerika und Afrika: Der Globale Norden schaut weg
Wer an Nachrichten über Lateinamerika und Afrika interessiert ist, wird in deutschen Zeitungen und Fernsehsendern wenig finden. Eine Medienanalyse
Fast 85 Prozent der Weltbevölkerung leben in Afrika – aber in der Berichterstattung der deutschen Medien sind die Ereignisse auf dem afrikanischen Kontinent nahezu gänzlich ausgeblendet. Diese bestürzende Tatsache ist seit Jahren gut dokumentiert und durch zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen belegt. Der Kommunikationswissenschaftler Fabian Sickenberger spricht von einem »umfassenden Agenda Cutting«: Lediglich rund 3,7 Prozent der von ihm ausgewerteten 1685 »Tagesschau«-Beiträge befassen sich »haupt- oder nebensächlich mit afrikanischen Staaten oder Menschen«.
Sickenbergers Ergebnisse zur randständigen Berichterstattung über Afrika decken sich vollständig mit den Resultaten langjähriger Untersuchungen, die der Autor dieses Artikels durchgeführt hat. Dabei zeigt sich, dass die Marginalisierung Afrikas im Zuge aktueller Entwicklungen, namentlich der Corona-Pandemie (2020 bis 2022), dem Ukraine-Krieg (seit 2022) sowie dem Gaza-Krieg (seit 2023), sogar noch zugenommen hat. So befasste sich im Jahr 2024 lediglich ein Bruchteil der Beiträge der reichweitenstärksten deutschsprachigen Nachrichtensendung, der Hauptausgabe der »Tagesschau«, mit dem Globalen Süden. Insgesamt widmen die führenden deutschsprachigen Nachrichtensendungen der Thematik durchschnittlich lediglich etwa zehn Prozent der Sendezeit. In den meisten Printmedien liegt dieser Anteil sogar nur bei rund fünf Prozent der Beitragsseiten. Abgesehen von wenigen Ausnahmen sind afrikanische Staaten also medial nahezu unsichtbar.
Mediale Selektivität
Eine gewisse Ausnahme im allgemeinen medialen Desinteresse am Globalen Süden bilden die Wirtschaftsmacht China sowie die Länder der sogenannten MENA-Region (Middle East und North Africa), zu der auch die nordafrikanischen Staaten zählen. Allerdings ist das mediale Interesse an der MENA-Region insbesondere auf kriegerische Auseinandersetzungen mit Beteiligung von Staaten des Globalen Nordens zurückzuführen: namentlich Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen und Gaza. Subsahara-Afrika hingegen zählt – wie auch Lateinamerika und Südasien – zu den weitgehend blinden Flecken der Berichterstattung.
Dabei scheint die mediale Selektivität auch strukturell bedingt. Die bloße Verfasstheit des »ARD«-Korrespondent*innennetzwerks legt bereits eine enorme mediale Überrepräsentation des Globalen Nordens nahe: Während im Jahr 2020 etwa aus dem »ARD«-Studio in Prag zwei Korrespondenten aus zwei Ländern (Tschechien und Slowakei) mit zusammen etwa 16 Millionen Einwohnern berichteten, waren im Studio Nairobi (Kenia) ebenfalls zwei Personen tätig – mit einer Zuständigkeit für sage und schreibe 38 afrikanische Staaten mit rund 870 Millionen Einwohnern. Inzwischen besteht das »ARD«-Studio Nairobi zwar aus drei Korrespondent*innen, die über 33 Länder berichten. Allerdings fällt nach wie vor beispielsweise Dakar in deren Zuständigkeitsbereich, die über 6000 Kilometer entfernte Hauptstadt Senegals. Das ist in etwa so, als würde jemand aus Brüssel über Washington, D.C. berichten.
Die gesamte Berichterstattung der Tagesschau über Konflikte im Globalen Süden machte 2024 nicht einmal ein Drittel der Sendezeit aus, die dem Sport eingeräumt wurde.
Zu den medial nahezu vollständig ignorierten militärischen Konflikten zählt der Bürgerkrieg in der nordäthiopischen Region Tigray in den Jahren 2020 bis 2022, an dem auch Eritrea beteiligt war. Mit bis zu 600 000 Toten gilt er als der bislang tödlichste Krieg des 21. Jahrhunderts, mindestens 120 000 Vergewaltigungen wurden während des Krieges begangen. Amnesty International dokumentierte schwerste Menschenrechtsverletzungen, darunter Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnische Säuberungen, und kritisierte das mangelnde Interesse der internationalen Gemeinschaft. Während die »Tagesschau« allein 2022 rund 86 115 Sekunden über den Ukraine-Krieg berichtete – die Beiträge zu dessen indirekten Auswirkungen, etwa im Energiesektor, nicht eingeschlossen – entfielen auf den Tigray-Krieg lediglich 940 Sekunden Sendezeit innerhalb von drei Jahren.
Auch der Bürgerkrieg im Sudan fand medial nur begrenzte Beachtung. Das UNHCR sprach von einer »schrecklichen humanitären Krise von epischen Ausmaßen«. Unicef-Exekutivdirektorin Catherine Russell bezeichnete die Lage im März 2025 vor dem Weltsicherheitsrat als »größte und verheerendste humanitäre Krise der Welt«. Bereits im April 2024 stellte die Welthungerhilfe fest: »Der Sudan ist heute das Land mit den meisten Vertriebenen weltweit – die Hälfte davon Kinder.
Fast 18 Millionen Menschen leiden unter akuter Ernährungsunsicherheit.« Trotz dieser dramatischen Lage widmete die »Tagesschau« dem Sudan im Jahr 2023 lediglich 1365 Sekunden Sendezeit. 2024 wurde die Berichterstattung sogar antizyklisch zur sich zuspitzenden humanitären Katastrophe auf nur noch 640 Sekunden reduziert.
Das mediale Desinteresse an gewaltsamen Konflikten ohne Beteiligung des Globalen Nordens ist indes nicht auf Afrika beschränkt. Auch die sicherheitspolitisch und humanitär desolate Lage in Haiti sowie die Bürgerkriege in Myanmar und im Jemen werden weitgehend ausgeblendet. Bemerkenswert ist, dass die gesamte Berichterstattung der »Tagesschau« über Konflikte im Globalen Süden – sofern keine Staaten des Globalen Nordens beteiligt waren – zwischen 2020 und 2024 nicht einmal ein Drittel der Sendezeit ausmachte, die allein im Jahr 2024 dem Sport eingeräumt wurde.
Kein Platz für Vielfalt
Afrika umfasst 54 Staaten, etwa 3000 Ethnien und (Schätzungen zufolge) ebenso viele Sprachen. Dieser gesellschaftlichen und kulturellen Vielfalt wird das medial gezeichnete Bild kaum gerecht. Vielmehr bleiben Darstellungen häufig eindimensional und undifferenziert. Wiederholt wurde darauf hingewiesen, dass viele in den Medien verbreitete Afrikabilder nicht nur stereotyp, sondern auch negativ konnotiert sind.
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Insbesondere in der Vergangenheit wurde Afrika oft als »Sorgen-« oder »Hungerkontinent« dargestellt; positive Entwicklungen erschienen in solchen Darstellungen nahezu ausgeschlossen. Zwar gibt es inzwischen auch positive und motivierende Narrative, etwa im Kontext des Begriffs »Africa rising«, der Afrika als Aufbruchs- und Chancenkontinent beschreibt. Doch gerade in traditionellen Medien, die Afrika und dem Globalen Süden insgesamt nur sehr begrenzte Sendezeit einräumen, dominieren weiterhin die sogenannten K-Themen: Kriege, Krisen, Krankheiten, Katastrophen, Konflikte, Korruption und Kriminalität. Der Afrikaexperte Martin Sturmer kommentierte dies pointiert mit den Worten: »Afrika interessiert nur im Katastrophenfall.«
Wenn ohnehin nur sehr begrenzte Sendezeit für einen Kontinent wie Afrika zur Verfügung steht, wird diese nahezu ausschließlich für negative Themen verwendet. Die Berichterstattung über Krisen, Kriege und Katastrophen ist zweifelsohne wichtig, auch dieser Artikel behandelt ja solche Themen. Eine Verharmlosung realer Missstände darf nicht erfolgen. Dennoch ist es essenziell, auch Positivbeispiele aufzuzeigen, um einer potenziellen Ermüdung oder Abwendung des Publikums angesichts einer rein negativ geprägten Berichterstattung entgegenzuwirken. Eine differenzierte, konstruktive und lösungsorientierte Berichterstattung – eine Art »Can do«-Journalismus – setzt allerdings voraus, dass überhaupt ausreichend Platz für eine vertiefte Beschäftigung mit Afrika und dem Globalen Süden geschaffen wird.
Ausblick
Interesse und Empathie sollten nicht an Staatengrenzen enden. Um nachhaltiges Interesse für ein Thema zu wecken, bedarf es jedoch einer kontinuierlichen und ernsthaften Berichterstattung. Denn: Ernsthaftes Interesse braucht immer eine vorausgehende Auseinandersetzung. Nur wenn berichtet wird, kann gesellschaftliche Relevanz entstehen – Themen und geografische Räume, die medial ignoriert werden, geraten nahezu zwangsläufig aus dem Fokus.
Es wäre zu wünschen, dass auch sogenannte Leitmedien die Bereitschaft aufbringen, den Staaten und Menschen des afrikanischen Kontinents (und des Globalen Südens insgesamt) die Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die ihnen zusteht – eben auch in Form von Sendeminuten und Beitragsseiten.
Ladislaus Ludescher organisierte das Medienforschungsprojekt »Vergessene Welten und blinde Flecken. Die mediale Vernachlässigung des Globalen Südens« sowie die gleichnamige Poster-Wanderausstellung. Dieser Artikel ist ein stark gekürzter Vorabdruck eines Aufsatzes aus einem Sammelband unter der Herausgabe von Hans Peter Hahn, der in Bälde erscheinen wird. Weitere Informationen zur Thematik sind zu finden unter www.ivr-heidelberg.de.
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