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Martina Priessner: »Für die Familien hört der Schmerz nie auf«

In ihrem Dokumentarfilm »Die Möllner Briefe« begleitet die Filme­macherin Martina Priessner Betroffene der Brand­anschläge in Mölln. Ein Gespräch

  • Interview: Inga Dreyer
  • Lesedauer: 5 Min.
»Das Trauma verschwindet nicht, es wird an die nächste Generation weitergegeben«, sagt Martina Priessner.
»Das Trauma verschwindet nicht, es wird an die nächste Generation weitergegeben«, sagt Martina Priessner.

Nach den rassistischen Brandanschlägen in Mölln im Jahr 1992, bei denen drei Menschen zu Tode kamen, schickten Hunderte Menschen Solidaritäts- und Beileidsbekundungen – die jedoch nicht bei den Betroffenen ankamen. Stattdessen lagen sie 27 Jahre im Stadtarchiv. Wie haben Sie von diesen »Möllner Briefen« erfahren?

Das war 2020 in Offenbach bei einer Filmvorführung von »Der zweite Anschlag« von Mala Reinhardt. Ibrahim Arslan, der als Kind den Anschlag von Mölln überlebt hat, ist einer der Protagonisten des Films. Er war mir als Aktivist ein Begriff, und ich hatte an dem Abend das große Glück, ihn kennenzulernen. Wir haben uns lange unterhalten, er hat mir von diesen Briefen erzählt. Auch für ihn war das damals noch total frisch. Ich war schockiert, und es begann sofort zu rattern. Kurz danach rief ich ihn an und fragte: Kannst du dir vorstellen, einen Dokumentarfilm mit mir zu starten? Dann hat er mich eingeladen. Ich habe die Idee der Familie vorgestellt und allen das Angebot gemacht zu partizipieren. Die Entscheidungen wurden nicht sofort getroffen. Die jüngere Schwester Yeliz war sich zum Beispiel lange sehr unsicher, und dass die Mutter in den Film kommt, war gar nicht geplant. Das hat sich am Ende einfach schön ergeben.

Wie wurde es öffentlich, dass diese Briefe existieren?

Die Briefe lagen 27 Jahre im Möllner Stadtarchiv. Nora Zirkelbach, eine Wissenschaftlerin und Aktivistin, hat zu den rassistischen Anschlägen in Mölln recherchiert. Sie hat diese Briefe entdeckt und Ibrahim Arslan angerufen, den sie kannte. Ibo ist aus allen Wolken gefallen und meinte: »Halt, stopp, ich weiß überhaupt nichts von diesen Briefen.« Dann hat er Kontakt zum Archiv aufgenommen.

Interview

Martina Priessner lebt als freie Filme­macherin und Autorin in Berlin. Ihr Doku­mentar­film »Wir sitzen im Süden« wurde 2011 für den Grimme-Preis nominiert. »Die Wächterin« feierte 2020 im Deutschen Wett­bewerb von DOK Leipzig Premiere und erhielt den Doku­mentar­film­preis des Goethe-Instituts. Ihr aktueller Film »Die Möllner Briefe« hatte 2025 Premiere auf der Berlinale und wurde dort mit dem Pano­rama-Publi­kums­preis sowie dem Amnesty-Inter­na­tional-Film­preis ausgezeichnet.

Was haben Sie gedacht, als Sie diese Briefe zum ersten Mal sahen?

Das war ein bewegender Moment. Zuerst habe ich die Briefe gesehen, die heute bei DOMiD in Köln, dem Museum über Migration in Deutschland, aufbewahrt werden – auf Wunsch der Betroffenen, die damit sicherstellen, dass diese Zeitzeugnisse geschützt bleiben. Beim ersten Dreh in Mölln tauchten dann weitere Briefe auf, die angeblich an den Bürgermeister gerichtet waren. Darunter viele Kinderzeichnungen, die erkennbar nicht für den Bürgermeister, sondern für Ibrahim gedacht waren. Er hatte sie bis dahin nie gesehen. Es war eine riesige Bandbreite: kleine Postkarten mit Sätzen wie »Wir lieben Türken«, lange, mit Schreibmaschine oder handschriftlich geschriebene Briefe. Es gab viele Beileids- und Trauerkarten, auch einen kleinen Anteil Hassbriefe. Auffällig war, wie stark sich Menschen damals einbringen wollten – es gab sogar konkrete Angebote: Wohnmöglichkeiten, Einladungen auf einen Ponyhof für die Kinder. All das hätte für die Verarbeitung des Traumas eine große Rolle spielen können.
Das Bittere ist, dass diese Solidarität nicht bei den Betroffenen ankam und deshalb keinerlei gesellschaftliche Kraft entfalten konnte. Gerade nach solchen Anschlägen fühlen sich die Überlebenden zutiefst alleingelassen. Diese Briefe hätten gezeigt, dass sie nicht allein sind. Dass sie verborgen blieben, war nicht nur ein Verlust für die Opfer, sondern auch für die, die sie geschrieben hatten. Vielleicht hätten sich daraus dauerhafte Bündnisse entwickelt, die die Geschichte anders geprägt hätten.
Heute – 30 Jahre später – haben die Briefe eine neue Bedeutung: Sie machen sichtbar, was damals verschwiegen wurde. Und sie eröffnen die Möglichkeit, dass sich verspätete Solidarität doch noch in Verantwortung und gemeinsames Handeln verwandelt.

Warum sind die Briefe damals nicht übergeben worden?

Ich glaube nicht, dass ein Bürgermeister in Mölln gesagt hat: »Wir lassen die Briefe verschwinden.« Aber es gab ein institutionelles Einverständnis, nichts damit zu machen. Die eigentliche Bedeutung der Briefe – Solidarität mit den Betroffenen – wurde verdrängt, indem man sie nicht ins Zentrum rückte, sondern wegsortierte. Das funktioniert ja nur, wenn alle Beteiligten »mitspielen« – niemand insistiert, niemand laut nachfragt, niemand widerspricht. In diesem Sinne war die Verwaltung eine Bühne der Verdrängung.
»Wir haben es versäumt«, sagt die Stadt, aber Versäumnis klingt nach einem dummen Zufall. Fast 1000 Briefe wegsortieren und jahrzehntelang ignorieren – das ist kein Versehen. Das ist institutioneller Rassismus. Es zeigt, dass das Leid der Betroffenen nicht ernst genommen wurde. Man hat ihre Perspektive schlicht nicht als wichtig erachtet. Und genau dieses Muster – das systematische Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen – begegnet uns bis heute in vielen Fällen rassistischer Gewalt.

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30 Jahre klingt nach einer langen Zeit. Aber Ihr Film zeigt, wie sehr die Betroffenen noch immer leiden …

30 Jahre klingt nach einer langen Zeit. Aber für die Familien hört der Schmerz nie auf. Das Trauma verschwindet nicht, es wird an die nächste Generation weitergegeben. Yeliz zum Beispiel wurde drei Jahre nach dem Anschlag geboren und trägt den Namen ihrer ermordeten Schwester – eine Bürde, die sie belastet. Ihr Bruder Namık überlebte als Baby, weil seine Mutter ihn aus dem Fenster geworfen hat. Bis heute fragt er sich, warum er und nicht seine Schwester. Diese »Überlebensschuld« ist etwas, was viele Überlebende teilen.
Und der Schmerz wird durch das, was wir den »zweiten Anschlag« nennen, noch größer: den Umgang von Behörden, Medien und Politik. Statt Empathie erleben Betroffene oft Schweigen, Abwehr oder Täter-Opfer-Umkehr, aber auch komplettes Ermittlungsversagen. Zum Beispiel wird regelmäßig Rassismus als Tatmotiv negiert. Sie werden alleingelassen, und die ganze Last bleibt bei ihnen.
Gleichzeitig zeigt der Film auch ihre Stärke: Erinnerungskultur wird in diesem Land fast ausschließlich von den Betroffenen selbst getragen – ehrenamtlich, oft unter großen persönlichen Opfern. Dass sie trotzdem weitermachen, ist vielleicht das größte Zeichen von Widerstand.

»Die Möllner Briefe«, Deutschland 2025. Regie und Buch: Martina Priessner. 96 Min. Jetzt im Kino.

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