»Junkerland in Bauernhand!«

Was hat die Bodenreform vor 80 Jahren in Ost­deutschland mit der deutschen Einheit zu tun?

  • Jonas Werner
  • Lesedauer: 4 Min.
Erst vermessen, dann enteignen: Vorbereitungen zur Bodenreform, September 1945
Erst vermessen, dann enteignen: Vorbereitungen zur Bodenreform, September 1945

Ungewöhnliche Szenen spielen sich im Herbst 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) ab. Demonstrationen und sozialistische Parolen sind im ländlichen Raum zu vernehmen. Dazu kommt es beinahe wöchentlich zu Versammlungen, auf denen Dorfbewohner, aber auch hinzugerufene Parteipropagandisten die Enteignung der Gutsherren und eine Neuverteilung der riesigen Ländereien fordern. Die Sozialstruktur der Dörfer soll völlig umgekrempelt werden. Es ist der erste Schritt in Richtung sozialistische Gesellschaft.

Östlich der Elbe war die Landwirtschaft von der Dominanz des alten Adels und seiner riesigen Güter geprägt. Einzelne Junker bewirtschafteten teilweise über 20 000 Hektar und galten als unantastbare Herrscher. Besitzstandswahrend galten sie während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik als Träger eines reaktionären Denkens und dienten während der NS-Zeit zum Teil aktiv dem Regime. Andere waren beinharte Monarchisten und standen den Nazis ablehnend gegenüber. In jedem Fall lehnten die sowjetischen Nachkriegsherren sie aus politischen wie auch ideologischen Gründen ab. Eine solche Vermögenskonzentration war mit sozialistischen Vorstellungen nicht vereinbar, weshalb im September 1945 jeder Besitzer von mehr als 100 Hektar Land enteignet wurde.

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3,3 Millionen Hektar – ein gutes Drittel der Gesamtfläche der DDR – werden umverteilt. So kommen bislang unterprivilegierte Schichten zum Zug. Neben ärmlichen Kleinbauern sind dies vor allem mittellose Landarbeiter und sogenannte Neubauern, die aus den bisher deutschen Gebieten östlich von Oder und Neiße stammen oder aus der Stadt zuziehen. Die enteigneten und aufgeteilten Flächen müssen zu einem reduzierten Preis erworben werden.

Die Reform zielt nicht nur auf die Zerschlagung des Junkertums, sondern möchte explizit auch eine neue Kleinbauern-Klasse schaffen. Bei der ersten Umverteilungsmaßnahme der noch nicht gegründeten DDR entsteht auf breiterer Ebene verteiltes Privateigentum. Noch 1950 liegt die Selbstständigenquote in der DDR aufgrund der neuen landwirtschaftlichen Eigentumsverhältnisse bei ungewöhnlich hohen 25 Prozent (BRD heute: 8,5 Prozent). Ein Drittel des neu verteilten Landes wird vom Staat in großen Volkseigenen Gütern ewirtschaftet.

Die ersten Jahre sind hart. Fast ohne Technik und Tiere ausgestattet, bearbeiten die Bauern die Flächen. Viele von ihnen geben nach wenigen Jahren auf. Die alten Gutsherren sind nach Kriegsende entweder in den Westen gegangen oder werden aus ihren Heimatlandkreisen vertrieben und dürfen diese nicht mehr betreten. Mit ihnen verschwindet auch landwirtschaftliches Wissen und entsprechendes Gerät, zudem haben sie in der konservativen Landbevölkerung noch immer Anhänger.

Die Neu- und Kleinbauern können oftmals die immer höheren Planvorgaben nicht erfüllen. Dies ist durchaus politisch kalkuliert, die spätere DDR-Führung strebt eine Kollektivierung nach sowjetischem Kolchosen-Vorbild an. 1952 entsteht die erste Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) als lokaler Zusammenschluss von Kleinbauern. Anfangs setzt man noch auf Freiwilligkeit, dann kommt Zwang ins Spiel. 15 Jahre nach der Bodenreform gibt es keine privaten Kleinbauern mehr, Großbetriebe prägen Ostdeutschland. Die Landwirtschaft wird industrialisiert und verläuft komplett autark von jahrhundertelang prägenden Eigentumsstrukturen.

Bereits unmittelbar nach der Wende steht die Bodenreform zur Disposition. Die Erben der Großgrundbesitzer machen schnell mobil und reichen 1990 Klage beim Bundesverfassungsgericht gegen die Maßnahmen in der SBZ und für eine Rückübertragung der damals enteigneten Gebiete ein, die noch im Dezember desselben Jahres abgewiesen wird. Da die Bodenreform als Teil der Denazifizierung von den Alliierten begründet werden kann, scheitern die Alteigentümer auch mit Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Helmut Kohl, der nicht nur auf das Wohlwollen Moskaus bezüglich der deutschen Vereinigung angewiesen war, weiß: Eine Refeudalisierung des ländlichen Raumes bedeutet sozialen Sprengstoff. Der Grundsatz der Treuhand »Rückgabe vor Entschädigung« gilt somit hier nicht, da das Eigentum der LPG zumindest formell den Genossenschaftsbauern gehörte. Zwar wurden einige Güter zurückgekauft und kämpft bis heute ein Lobbyverband um hohe Entschädigungszahlungen, doch die einstige Herrschaft über Ostelbien war den Junkern endgültig genommen.

Heute dominieren in Ostdeutschland Agrargenossenschaften als Nachfolger der LPG-Betriebe die Landwirtschaft. Als eine der wenigen Branchen ist diese deutlich produktiver als deren Äquivalent in Westdeutschland. Ein Kleinbauerntum – wie es 1945 für kurze Zeit politisch gewollt war – ist auch nach der Wende nicht entstanden. Die großen Verlierer der Einheit waren vor allem damalige Neu- und Kleinbauern, die sich der Kollektivierung entzogen hatten oder als solche nach 1990 anfangen wollten. Auch sie zogen vergeblich vor Gericht. Die großflächige Struktur ist noch immer ein Merkmal der ostdeutschen Landwirtschaft. Ein Erbe der Bodenreform.

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