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Bani Abidi: Ein Raum der Zusammenkunft in Zeiten des Verlusts
Das Kunstwerk des Monats: Bani Abidis Lesesaal »Books of Others« in Berlin-Kreuzberg
Besonders in politisch bewegten Zeiten kann das Lesen von Büchern sowie das physische Beisammensein zu einer künstlerischen Praxis werden. Diesen Eindruck gewinnt, wer den von Bani Abidi initiierten Raum »Books of Others« im Herzen Berlin-Kreuzbergs betritt. In einem typischen Berliner Hinterhof befindet sich, gerahmt von einigem Grün, eine zweigeschossige Remise aus rotem Backstein: Abidi entwickelte hier ein auf Freundschaft basierendes Konzept für einen Reading Room, in dem nicht nur sorgfältig kuratierte Bücher aus Privatsammlungen von Freund*innen ein zeitweiliges Zuhause finden, sondern ferner das gemeinsame Lesen, Essen, und der Austausch im Zentrum stehen.
Wer sich zu den freitäglichen Öffnungszeiten dort einfindet, kann durch die Auswahl an Büchern stöbern, sich lesend auf einem der Sofas neben anderen Besucher*innen niederlassen oder in der Küche und dem Innenhof ins Gespräch kommen. Hier wird man immer wieder Menschen aus den Bereichen Kunst, Literatur, Film und Wissenschaft mit Bücherstapeln ankommen sehen, die von Abidi eingeladen wurden, ihre aktuellen Lieblinge oder All-time Favourites mitzubringen. Es sind vor allem Menschen, die sich seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 und der militärischen Antwort der israelischen Regierung kritisch mit dem deutschen Diskurs befasst haben und die zu dem Schluss gekommen sind, dass vermehrt Privaträume eine tragende Rolle spielen, um ins Gespräch rund um die Frage des Umgangs mit der Trauer um die unzähligen Toten zu kommen.
Vielmehr geht es hier um eine Öffnung des Privaten durch ein Teilen von Ressourcen (Büchern, Räumlichkeiten und Essen) und den Akt des gemeinsamen Lesens.
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So finden sich in dem wandfüllenden Bücherregal beispielsweise Susan Sontags »Regarding the Pain of Others« und Vazira Zamindars »The Long Partition and the Making of Modern South Asia« neben Semra Ertans »Mein Name ist Ausländer«, Audre Lordes »Your Silence Will not Protect You« und Daniel Marweckis »Absolution«. Geordnet lediglich nach den Vornamen der Ausleihenden, denen Abidi freie Hand lässt bei der Anzahl und Auswahl der Bücher aus ihren privaten Sammlungen. Der verbindende rote Faden ist die Frage, welche (Re-)Lektüre aus Sicht der jeweiligen Person in der aktuellen Zeit lohnend ist.
Was sich hier im Entstehen befindet, lässt sich weder als Project Space titulieren noch unter dem Stichwort künstlerische Kollektivität verbuchen. Stattdessen lässt sich mit Judith Butlers Begriff der Versammlung ein Teilaspekt dessen greifen, was Abidi hier ins Leben gerufen hat: »Transient critical gatherings,« so Butler, zeichnen sich in Kontexten der Präkarisierung dadurch aus, dass Körper sich gemeinsam einfinden und allein durch ihre Präsenz im öffentlichen Raum eine politische Form des Protests darstellen.
In »Books of Others« geht es jedoch nicht um eine Form des öffentlichen Protests, wenn auch die Buchauswahl und die Gespräche im Raum darauf schließen lassen, dass eine Solidarisierung mit der Zivilbevölkerung in Gaza und Kritik an der deutschen Politik angesichts der israelischen Kriegsführung eine Verbindung zwischen den Anwesenden darstellt. Vielmehr geht es hier um eine Öffnung des Privaten durch ein Teilen von Ressourcen (Büchern, Räumlichkeiten und Essen) und den Akt des gemeinsamen Lesens, der Menschen über Freundeskreise hinweg miteinander in Kontakt bringt. Dadurch setzt »Books of Others« ein Zeichen für Verbindung anstatt Vereinzelung in Zeiten, in denen Einschränkungen der Demonstrationsfreiheit und Absagen von Veranstaltungen die öffentlichen Räume des Sprechens für viele eingeschränkt haben.
Zuweilen lädt »Books of Others« auch zu Veranstaltungen ein, wie beispielsweise im Juli 2025, als der in Karachi lebende Künstler Fazal Rizvi zu Besuch in der Stadt war. In seiner Lecture und Sound Performance »Kissing of the Threshold«, die er nach dem 7. Oktober entwickelte, um sein Gefühl der künstlerischen Sprachlosigkeit zu verarbeiten, wurde der Hörsinn angesprochen. Die Zusammenkunft im Raum – halbkreisförmig auf einem großen Teppich und auf Kissen sitzend – erinnerte an Majlis, einen Ort des Zusammensitzens, der in verschiedenen islamisch geprägten Kulturen legislative, religiöse oder auch künstlerisch-musikalische Funktionen annehmen kann.
Für Goethe ist die Kunst »eine Vermittlerin des Unaussprechlichen«. Was ist daran bewegend, was politisch? Das erklären wir an einem aktuellen oder historischen Beispiel: Das Kunstwerk des Monats.
Ausgehend von einem zehnstimmigem, für die Sharjah Biennale konzipierten Soundrecording verwob Rizvi in diesem Fall die südasiatische Majlis-Tradition von Soz Khwani, einem melodisch vorgetragenen poetischen Trauern und Erinnern der Schlacht von Kerbela (ein von Schiiten und Aleviten bis heute jährlich erinnertes Ereignis der frühen Geschichte des Islam) mit der koranischen Geschichte der väterlichen Trauer um Yusuf (entspricht Josef im jüdischen Tanach und in der Bibel) sowie seiner eigenen Trauer um Menschen, von denen er sich verabschieden musste.
Der in Berlin lebende Sozialanthropologe Omar Kasmani, der im Anschluss an die Performance ein Gespräch mit dem Künstler moderierte, erinnerte an die »Wake Work«-Praxis der Black Studies Professorin Christina Sharpe, ein Denken und Handeln, das sich der Trauer nicht nur im Privaten gewahr wird, sondern den kollektiven und anhaltenden Verlust auch der Welt vor Augen führt, ihn damit wachhält.
Diese je spezifisch kontextualisierten Formen des Umgangs mit Verlust und Trauer, die eine Trennung von privat und öffentlich infrage stellen, finden gerade in aktuellen Zeiten vermehrt Einzug in künstlerische Praktiken wie die beschriebene Arbeit von Rizvi, da auch die Trauer um die fortschreitende Zerstörung Gazas das Private und Öffentliche durchkreuzt.
Es geht also um die Frage, wie außerhalb von diesen Zusammenkünften ein »Wir« geschaffen werden kann, das verschiedene Betroffenheiten und Positionierungen beinhalten kann, und was die künstlerische Hinwendung zum und Ausweitung des Privaten für öffentliche Kunstinstitutionen bedeutet, deren genereller Anspruch es sein sollte, ein offener Ort für alle zu sein. Initiativen wie »Books of Others« sind daher als ein dringlicher Aufruf zu verstehen, ein Zusammenkommen innerhalb wie außerhalb des privaten Raums möglich zu halten, das verschiedene Erfahrungen von Verlust und Trauer nebeneinander zulässt.
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