Vom Zwang, sich zu vermarkten

Nicole Mayer-Ahuja weiß, warum Lohnarbeit spaltet – und wie es anders gehen kann

  • Michael Brie
  • Lesedauer: 6 Min.
Es gibt ein »Wir«: Lohnarbeit ist männlich wie weiblich wie migrantisch.
Es gibt ein »Wir«: Lohnarbeit ist männlich wie weiblich wie migrantisch.

Selten kann man ein sozialwissenschaftliches Buch lesen, das von solcher Klarheit und Stringenz geprägt ist wie das von Nicole Mayer-Ahuja zur Klassenfrage. Es verbindet die Vorzüge einer brillanten Einführung in die Klassenfrage mit theoretischer Fundierung und einprägsam verarbeiteter breiter Empirie, ohne sich auch nur an einer Stelle in Details zu verlieren oder die Sache theoretisch unnötig zu komplizieren bzw. falsch zu vereinfachen. Das Buch verbindet, selten genug, kritische Gesellschaftsanalyse mit klarer politischer Orientierung. In Zeiten der Verwirrung, nicht zuletzt der gesellschaftlichen wie politischen Linken, ist dieses Buch wie kühles sauberes Wasser für einen Dürstenden.

Und nur selten wird man auf solche Weise ein sozialwissenschaftliches Werk würdigen. In diesem Fall aber ist es durch die Sache geboten. Mayer-Ahuja beherrscht den Gegenstand, über den sie schreibt, lässt sich nicht durch ihn beherrschen und muss auch nicht zeigen, was sie alles weiß. Mit zwingender Logik werden Schritt für Schritt die wesentlichen Probleme entwickelt, die Klassenanalyse heute aufwirft, Kapitel folgend auf Kapitel. Hochkomplexe Zusammenhänge werden auf schlüssige, oft anschauliche Weise erklärt, ohne sie dabei zu simplifizieren.

Im Zentrum des Buches steht das Paradoxon der kapitalistischen Klassengesellschaft, wie sie sich vor über 200 Jahren herausbildete: Es gibt eine gemeinsame Klasse der Lohnabhängigen, die in der Bundesrepublik rund 90 Prozent der Beschäftigten ausmacht, und sie ist wie keine andere Klasse gespalten.

Mayer-Ahuja verweist auf Friedrich Engels, der bei seinen praktischen wie theoretischen Studien zur Lage der arbeitenden Klasse in England und auf Basis der Analyse der britischen Sozialisten dieses Paradoxon 1845 auf den Punkt gebracht hat und dessen Ursache wie mögliche Wege der Überwindung aufzeigte: »Die Konkurrenz ist der vollkommenste Ausdruck des in der modernen bürgerlichen Gesellschaft herrschenden Kriegs Aller gegen Alle. Dieser Krieg, ein Krieg um das Leben, um die Existenz, um alles, also auch im Notfalle ein Krieg auf Leben und Tod, besteht nicht nur zwischen den verschiedenen Klassen der Gesellschaft, sondern auch zwischen den einzelnen Mitgliedern dieser Klassen […]. Diese Konkurrenz der Arbeiter gegeneinander ist aber die schlimmste Seite der jetzigen Verhältnisse für den Arbeiter, die schärfste Waffe gegen das Proletariat in den Händen der Bourgeoisie.« (MEW 2, S. 307) In der kapitalistischen Klassengesellschaft wird das »Divide et impera« zum strukturellen Prinzip, mit dem die Unterlegenheit der lohnarbeitenden Klassen und die Dominanz der Kapitalakkumulation über Wirtschaft und Gesellschaft zementiert wird.

Einerseits, so Mayer-Ahuja, gibt es die immer noch »wachsende Gruppe jener Menschen […], die ihre Existenz durch den Verkauf der eigenen Arbeitskraft sichern müssen, also Lohnarbeit leisten«. Ihre Lage ist durch grundlegende Gemeinsamkeiten geprägt: »vom Zwang, kontinuierlich die eigene Arbeitskraft zu vermarkten, über die Mehrung fremden Reichtums bis hin zu jener Fremdbestimmung, die aus Arbeit unter dem Weisungsrecht von Vorgesetzten erwächst«. Andererseits ist die Herstellung handlungsfähiger Solidarität, eine »verbindende Politik der Arbeit«, außerordentlich schwierig, denn sonst wäre der Kapitalismus längst Geschichte.

Mayer-Ahujas Buch zeichnet sich dadurch aus, dass sie Schritt für Schritt diesen Widerspruch zwischen den gemeinsamen Klasseninteressen der Lohnarbeitenden und ihrer Solidarität miteinander und gegen die Herrschaftszwänge einerseits und den durch die Konkurrenz erzeugten Linien der Spaltung bis Aufhetzung gegeneinander andererseits konzeptionell und empirisch begründet entfaltet. Ganz praktisch. »Wer ist Kollegin oder Kollege, mit denen ich Arbeits- und andere Erfahrungen teile, die mit ähnlichen Problemen konfrontiert sind, denen ich auf Augenhöhe begegne? Und wo verlaufen die Grenzen dieses ›Wir‹ – wer steht aus meiner, aus unserer Sicht auf der anderen Seite, begegnet uns nicht nur als Gegenüber, sondern als Gegner mit gegensätzlichen Interessen? Anders formuliert: Mit wem solidarisiere ich mich – und wer bleibt von dieser Solidarisierung ausgeschlossen?«

Ausgehend von der Entwicklung der theoretischen Grundlagen im ersten Teil ihrer Schrift werden im zweiten die Paradoxien von Einheit und Spaltung der lohnarbeitenden Klasse konkreter dargestellt: Die Konkurrenz innerhalb dieser setzt – seit über 200 Jahren – an den Geschlechterverhältnissen an und an der Migration. Die Kapitalseite nutzt die ungleiche Handlungsmacht innerhalb der Lohnarbeitenden aus, und jene Arbeiter, die sich qua Geschlecht oder Ethnie gegenüber den Klassengenossinnen und ‑genossen überlegen sehen, leiten daraus oft ihrerseits Privilegien ab, die sie hart gegen die Klassenschwestern und ‑brüder verteidigen. Die Arbeitswelt ist weder geschlechtsneutral noch neutral gegenüber Herkunft, Alter, Bildung.

Die Belastungen in der Lohnarbeit und bei der unbezahlten Reproduktionsarbeit sind immer noch sehr ungleich zwischen den Geschlechtern verteilt. Dies wirkt sich auch innerbetrieblich aus. Es gibt Spaltungslinien zwischen den Lohnabhängigen entlang von Qualifikation, Arbeitsverantwortung und Gestaltungsspielraum, Einkommen, Zeitverfügung usw. Gemeinsame Antworten auf Herausforderungen unternehmerischer Umgestaltung und Auslagerung müssen hart erarbeitet werden. Oft sind die »Randbelegschaften« vor allem postmigrantisch geprägt, und Prekarität ist erneut zu einem Grundmerkmal der Lage insbesondere der unteren Gruppen der Lohnarbeitenden geworden. Die Klassenspaltungen tragen auch in Deutschland eine Hautfarbe und einen sprachlichen Akzent.

Mayer-Ahuja gelingt es, die Strategien der Unternehmen, die Veränderungen in den Strukturen der Kapitalakkumulation und der technologischen Entwicklung, die Selbstwahrnehmung der Lohnarbeitenden und die Ansätze ihrer solidarischen Bearbeitung darzustellen. Noch stärker hätten meines Erachtens die internationalen Dimensionen der Konkurrenz innerhalb der globalen lohnarbeitenden Klassen dargestellt werden sollen. Anders als in vielen anderen gesellschaftskritischen Darstellungen des modernen Kapitalismus gelingt es Mayer-Ahuja, Analyse und solidarische strategische Orientierung im Sinne der revolutionären Realpolitik Rosa Luxemburgs, auf die sie sich immer wieder bezieht, überzeugend organisch zu verbinden. Dies ist der größte Vorzug ihrer Schrift.

Im abschließenden Teil werden drei Strategien entwickelt, wie die Spaltung der lohnarbeitenden Klasse solidarisch und mit klarem Gegnerbezug bearbeitet werden kann. Erstens ist dies der Kampf um den Staat. Die neoliberale Konterrevolution hat bewiesen: »Staatliche Politik kann das Machtgefälle zwischen Kapital und Arbeit vergrößern oder verkleinern. Sie kann die Konkurrenz und Spaltung zwischen Arbeitenden schüren oder aber die Möglichkeiten abhängig Beschäftigter vergrößern, Unternehmen (und auch dem Staat) geeint und auf Augenhöhe gegenüberzutreten.« Der Absturz der Linken in Deutschland und in Europa sowie den USA ist damit verbunden, dass die Kapitalseite den Kampf um den Staat zu einem großen Maße für sich entschieden hatte. Der Aufstieg der Neuen Rechten mit ihrer Politik der Entsolidarisierung und der nationalistischen Hetze ist die Konsequenz.

Zweitens, so Mayer-Ahuja, bedarf es einer »solidarischen Politik der Arbeit« durch Betriebsräte und Gewerkschaften. Dabei geht es vor allem auch um konkrete Arbeit vor Ort entlang der Linien des Verbindenden wie des Spaltenden. Drittens, so macht sie deutlich, muss der Kampf um die Köpfe und Herzen geführt werden.

Ihr Buch endet mit den folgenden Sätzen: »Versuchen wir das (scheinbar) Unmögliche! Denken wir ohne Schere im Kopf über den Status quo hinaus – und konkretisieren wir unsere Vorstellungen davon, wie Arbeit, soziale Sicherheit und Demokratie in Wirtschaft und Gesellschaft aussehen sollen. Sorgen wir dafür, dass sich das ›Wir‹ der Lohnabhängigen erweitert – dass aus Potentialen der Solidarisierung tatsächlich Solidarität wird. Tun wir gemeinsam Schritt für Schritt hin zu einer besseren Gesellschaft.«

Nicole Mayer-Ahuja: Klassengesellschaft akut. Warum Lohnarbeit spaltet – und wie es anders gehen kann. C. H. Beck, 274 S., geb., 26 €.

»Versuchen wir das (scheinbar) Unmögliche! Tun wir gemeinsam Schritt für Schritt hin zu einer besseren Gesellschaft. Sorgen wir dafür, dass sich das ›Wir‹ der Lohnabhängigen erweitert«

Nicole Mayer-Ahuja
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