- Politik
- Frankreich
Letzter Kompromissversuch vor Neuwahlen
Macron lässt Lecornu Chancen für eine neue Regierung prüfen
Das politische Chaos in Frankreich hält an. Nachdem am Montag Premierminister Sébastien Lecornu seinen Rücktritt verkündet hatte und noch am selben Tag von Präsident Emmanuel Macron mit Verhandlungen über eine mögliche neue Regierung beauftragt worden war, präsentierte er am Mittwochabend das Ergebnis seiner Bemühungen.
Bei den Konsultationen habe sich eine wachsende Bereitschaft zu Konzessionen gezeigt, um den Staatshaushalt für 2026 zügig fertigzustellen und rechtzeitig zum Jahresende im Parlament zu verabschieden, sagte Lecornu im Anschluss in einem Fernsehinterview. Damit schwindet die Gefahr, dass sich die Lage weiter verhärtet und das Parlament neu gewählt werden muss.
Neuwahlen würden die Krise nicht lösen
Das hätte Lecornu zufolge auch wenig Effekt, weil nach Überzeugung der meisten Abgeordneten die Wähler kaum anders entscheiden würden als im Juli 2024. Wie Lecornu in seinem Interview ankündigte und wie am Abend ein Kommuniqué des Elysée bestätigt hat, wird Präsident Emmanuel Macron bis Freitagabend einen neuen Premierminister ernennen und mit der Regierungsbildung beauftragen. Ob das die politische Instabilität beendet, in die Frankreich seit der Parlamentsauflösung und den Neuwahlen vom Sommer 2024 abgeglitten ist und die sich inzwischen zu einer offenen politischen Krise zugespitzt hat, darf bezweifelt werden. Insbesondere weil es dem Regierungslager seit Beginn von Macrons zweiter Amtszeit 2022 an einer Mehrheit im Parlament fehlt.
In der politischen Arena stehen sich drei Lager gegenüber, die sich zu keinen Kompromissen im Interesse des Landes durchringen können. Bestenfalls unterstützen Teile der rechten Opposition von Fall zu Fall das eher zentristische Regierungslager bei Abstimmungen im Parlament und verschaffen ihm so vorübergehend eine Mehrheit. Die Neue Volksfront, das Bündnis der linken Parteien, ist zerstritten über die gegensätzlichen Strategien und Führungsansprüche der absolutistischen Bewegung La France insoumise und der eher zu Kompromissen bereiten Sozialisten. La France insoumise pocht nach wie vor auf das Wahlergebnis vom Juli 2024 und fordert, der Präsident solle einen linken Politiker mit der Bildung einer Regierung beauftragen.
Dass eine linke Regierung durchaus in »Cohabition« mit einem rechten Präsidenten das Land regieren kann, habe die politische Praxis bereits mehrfach unter Beweis gestellt. Doch die rechtskonservativen Republikaner wehren sich mit aller Macht dagegen.
Streitpunkte Rentenreform und Staatsverschuldung
Inhaltlich drehen sich die Auseinandersetzungen vor allem um das Schicksal der 2023 mit Brachialgewalt und dem Ausnahmeparagrafen 49.3 durchs Parlament gedrückten Rentenreform sowie um die steil steigende Staatsverschuldung und die eklatanten Steuerungerechtigkeiten. Immerhin konnte Lecornu vor Tagen positiv glänzen, als er erklärte, kein Gesetz mit dem Ausnahmeparagrafen durchsetzen und stattdessen dem Parlament die Entscheidung überlassen zu wollen.
Bisher hat lediglich La France insoumise den Rücktritt von Präsident Macron gefordert, scheiterte aber mit einem Antrag auf Amtsenthebung in der Nationalversammlung. Das Parlament auflösen und Neuwahlen will seinerseits das rechtsextreme Rassemblement National, das sich davon einen beschleunigten Zugang zu den Hebeln der Macht verspricht.
Macrons Umfeld spricht von Fehlern des Präsidenten
Jetzt aber kommen solche Forderungen auch aus dem Umfeld Macrons. So hat sein ehemaliger Premierminister Gabriel Attal in einem Interview die Parlamentsauflösung vom Juni 2024 als »völlig unverständlich« kritisiert und Macrons Weigerung, einen Rücktritt auch nur in Erwägung zu ziehen, als Beweis gedeutet, dass der Präsident »alles selbst im Griff behalten« will.
Edouard Philippe, ein anderer Ex-Regierungschef, kritisierte Macrons Hinhalte-Taktik und schlug vor, gleich nach Annahme des Haushalts für 2026 die für Mai 2027 anstehenden Präsidentschaftswahlen vorzuziehen. »Das wäre ein geordneter und würdiger Ausweg aus der gegenwärtigen politischen Krise, die dem Land in jeder Hinsicht schadet«, meint Philippe. Allerdings sind die Ratschläge von Attal und Philippe nicht ganz uneigennützig, denn von beiden ist bekannt, dass sie bei der nächsten Präsidentschaftswahl kandidieren wollen.
Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.
Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.
Dank Ihrer Unterstützung können wir:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln
Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.