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Cancel-Culture: Gespräch mit dem Feind in uns
Shani, Friedman, Böhmermann: Panik im Kulturbetrieb. Einladungen und ein weit ausladender Vorschlag von Volker Braun
Wir erleben im Veranstaltungswesen Hochfeiern der Nervosität: Vorsicht und Korrektheit stricken Verwirrungsmuster. Erst Trompetenstoß (Debatte! Streit!), dann Pfeifen im Wald. Moralstaatsanwälte auf allen Seiten. Und schnell ist Abweichenden ein Mainstriemen übers Hirn gezogen.
Der israelische Dirigent Lahav Shani wird von einem Konzert in Gent ausgeladen; Jan Böhmermann veranstaltet ein Konzert und sieht sich gedrängt, auf den Rapper Chefket zu verzichten. Stich-Worte im wahrsten Sinne sind: Naher Osten, Antisemitismus, Rechtsextremismus, Furcht vor Gewalttätigkeiten. Eingeladene sind (plötzlich?!) unzumutbare Reizfiguren.
Eingeladene sind (plötzlich?!) unzumutbare Reizfiguren.
Auch ein Michel-Friedman-Auftritt im Literaturhaus Klütz: Widerruf, aus Sicherheitsgründen. Die Loschwitzer Buchhändlerin Susanne Dagen, engagiert in der AfD-Kommunalpolitik, sollte am »Denkfest« Mannheim teilnehmen – und wurde ausgeladen. PEN Berlin erklärt: Was das oft bemühte Wort vom »Aushalten« wert sei, zeige sich, wenn es wirklich etwas auszuhalten gelte. »Meinungs-, Kunst- und Pressefreiheit gelten nicht nur, wenn es einem in den Kram passt, sondern auch dann, wenn es einem nicht in den Kram passt. Gerade dann.«
Die Verschmutzungen der Gesellschaft, die Ermüdung der Parteien, die Steigerungsraten des falschen Schönen und des wahren Hässlichen produzieren mehr und mehr Bürgerlähmung. Durchs Land wabert eine Sehnsucht nach Ausschluss alles Fragwürdigen, Unwägbaren. Sie befördert einen ständig nachwachsenden Orientierungsnotstand, und in Verbindung mit Selbstblindheit erschafft sie Gefügigkeit und Ausgrenzung. Dem ist (auch) durch Kultur zu begegnen – indem man Mut zeigt, im anderen, im schier Verfeindeten, sich selber zu sehen.
Das ist Weitsichtigkeit auf kürzeste Distanz. Denn: Der erste Feind sind wir uns selber. Wer spricht denn wirklich mit nur einer einzigen (vernünftigen) Stimme? Wer kann, fragt der Dichter Botho Strauß, »in seinem Innern dem ständigen Wechsel der Regime widerstehen? Im Herzen schlummert der König, der wache Verstand wacht über die Demokratie, der Geist ist Theokrat«. Was wir öffentlich sagen, wiegt immer weniger als das, was wir verschweigen. Umso dringlicher ist Austausch.
Ideal wäre, so skizziert’s ein Dichtertraum, vor anderen zu sprechen – wie mit sich selbst. So ein öffentliches Selbst-Gespräch im Miteinander durchliefe alles nur Erdenkliche, es liefe tief ins Unausgegorene, nicht Haltbare hinein, »bis es auch Punkte erreicht, die aufregend lehrreich für alle sind ... Aber aufpassen, dass bei richtigen Sätzen nicht aus Versehen gleich wieder eine Flagge gehisst wird« (Martin Walser).
Nur Leitartikler müssen leugnen, wie viele Meinungen in ihnen Platz haben. Dieser Platz in uns ist ein Labyrinth; Kultur bietet Reiseführung ohne Leitlinie. Ja, ich trinke Bier, trotz Wassernot in Afrika; ja, ich juble Fußballmillionären zu, trotz Infantino; ja, ich esse Fleisch, obwohl ich für den Tierschutz bin.
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Alles in mir wünscht sich die Vernichtung der Hamas, alles in mir wehrt sich gegen palästinensisches Sterben. Dies Zerren der Gegensätze! An meinen Wunden tröstet mich nicht, dass es die Wunden der Welt sind. Der Regisseur Sascha Hawemann schrieb: »Der Terror der Straßenecke schläft im gemeinsamen Ehe-Bett. Die Nackenschmerzen stammen vielleicht aus Aleppo. Das Konzentrationslager – ein Tumor im Kopf.«
Das ist das schreckliche Leben. Nicht von gestern, nicht von heute, sondern von immer. »Ich schäme mich, in dieser Welt glücklich zu sein«, ließ Heiner Müller eine Theatergestalt sagen und zog genüsslich an seiner Zigarre. Jede Wahrheit produziert genau das, was ihr widerspricht. Wer das eine behauptet, hat dem jeweils anderen schon zugearbeitet. Das ist elend, das ist glänzend. Und es lässt an Hannah Arendt denken: Der Sinn von Politik sei Freiheit – im Vollzug von Auseinandersetzung und Konflikt. Keine Vernunft ohne Trauer, keine Idee ohne Hilflosigkeit.
Der Sänger Hans-Eckardt Wenzel erhielt Auftrittsverbot in einer Leipziger Kulturfabrik. Auch wegen seiner Distanz zu sprachverhunzenden Gender-Auswüchsen. »So sehr Ihr daran hängen mögt, ist das schon ein Grund für ein Auftrittsverbot? Könnt Ihr nur Euch selbst ertragen?« Gesinnung stärkt die Reihen, schwächt aber enorm den Verstand. Toleranz dagegen bedeutet, vom Torwart zu lernen: dorthin zu gehen, wo es wehtut. Was ist wem zumutbar, was nicht? Soll Israel die Teilnahme am nächsten europäischen Song-Contest verweigert werden? Boykott (mitsamt seinem Bastard Ausladung) sowie Canceln und Gegencanceln sind keine Kultur-Wörter.
Der geweihteste Ort der Kultur ist die Mitte. Man kann sie nicht feiern wollen, ohne die Ränder aushalten zu können. Und das rettende Gegenteil von Faschismus ist nicht Antifaschismus, sondern – eine funktionierende Demokratie. Die ist keine bessere Welt der besseren Menschen, sondern »nur« der Raum mit der größten Kraft, diese vielen kämpfenden Seelen in uns auszuhalten, auszugleichen. Kräftig und bang zugleich: Einander nahezukommen, bleibt ein Risiko. Noch einmal der PEN: »Die Sorge vor (möglichen) Störungen, gleich von welcher Seite, kann niemals ein Argument sein, eine Veranstaltung abzusagen.«
Aber möglicherweise muss ganz anders gehandelt werden. Volker Braun, der freundliche Sarkast, schrieb vor einem halben Jahrhundert einen Text, »Verheerende Folgen mangelnden Anscheins innerbetrieblicher Demokratie«. Es ist ein Vorschlag, der auf frappierende Weise einer globalisierten Welt zuarbeitet und einen Ausweg bietet aus der nur mangelhaft möglichen staatlichen »Regulierung des Denkens«. Eine Regulierung, die doch gewiss auch einigen Beteiligten am gegenwärtigen Ein- und Ausladungs-Furor dringlich erscheint. Braun regt eine »Völkerwanderung in Europa« an: »Die Verteilung auf die Staaten muss Ausdruck ihrer Ansichten sein, nicht ihrer Abstammung. Der waldursprüngliche Zustand, der nur eine geografische, nicht aber eine ideologische Bestimmung zuließ, würde so der Vergangenheit angehören.«
Bravouröse Idee, weit ausladend. Die reine Leere darf Morgenluft wittern. Bitterböse Fragen – vom Tisch gewischt; unerträglicher Geist – unter den Teppich gekehrt. Und dann? Gelobt werden für eine: saubere Haltung.
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