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  • Deutsches Schauspielhaus Hamburg

Musik aus der Trockenschleuder

Christoph Marthaler zeigt am Deutschen Schauspielhaus Hamburg »Mein Schwanensee« – mit Jelinek statt Tschaikowski

  • Andreas Schnell
  • Lesedauer: 3 Min.
Magischer Realismus: Die melancholische Gegenwartsbewältigung des Christoph Marthaler
Magischer Realismus: Die melancholische Gegenwartsbewältigung des Christoph Marthaler

Willkommen im Marthaler-Sportstudio: Hanteln und allerlei anderes Trainingsgerät stehen vor nacktem Beton, eine Kanzel irritiert, dahinter allerdings hängt an der Wand eine Trainingsbank so, dass sie eigentlich wie ein Kreuz fungiert. Neben der Kanzel summt eine alte Trockenschleuder, die nicht nur dem Ensemble gelegentlich Rätsel aufgibt.

Aber all das ist natürlich ganz im Sinne Christoph Marthalers, der in ein paar Wochen an gleicher Stelle mit einem Literarischen Konzert und Texten Robert Walsers zum »Unterricht in der Kunst, die Fröhlichkeit nicht einzubüßen«, einlädt, »möglichst viele unbeantwortbare Fragen aufzuwerfen und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu vermeiden, auf den sogenannten Punkt zu kommen«.

Das gehört zur Methode Marthaler. Sein magischer Realismus speist sich aus Inszenierungen von Vereinzelung, aus durchaus liebevollem Spott über seine Figuren, die in »Mein Schwanensee« in die Texte von Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek eintauchen und damit eine Trilogie vollenden, deren Teile eins und zwei Friedrich Hölderlin und Emily Dickinson gewidmet waren. Sie alle schrieben beziehungsweise schreiben in und aus der Abgeschiedenheit auf die Welt blickend, so verklammert es die Dramaturgie.

Alle drei Inszenierungen haben ihren Ort im Malersaal am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, der – anders als das prunkvolle große Haus – seinerseits ein etwas abgeschiedener Ort ist. Hier legt der Schweizer Regisseur und Musiker mit »Mein Schwanensee« eine weitere meisterhafte Probe seines Theaters vor. Statt Tschaikowski gibt es Musik von Bartók, Beethoven, Schumann und Schubert zu hören, aber auch Tears For Fears, Red Hot Chili Peppers und Ralph Maria Siegel.

Elfriede Jelinek kommt dabei mit eher unbekannten Texten zu Wort, mit Gedichten und Hörspieltexten aus ihrem – allerdings noch nicht in weitgehender Isolation entstandenen – Frühwerk. Auch da geht es schon ans Eingemachte, um Geschlecht und Herrschaft, assoziativ, mit Verweisen auf klassische und popkulturelle Mythologien.

So performt Samuel Weiss als berühmter Dirigent den erbarmungswürdigen Kult um die leidende Künstlerseele, Magne Håvard Brekke stellt sich als Charles Lindbergh vor, dessen Egomanie freilich in der Rolle der Bewährungsprüfung daherkommt, während Bendix Dethleffsen sich eher kontrafaktisch als den »athletisch gebauten Mann« Tarzan ausgibt. Josefine Israel, Sasha Rau und Fee Aviv Dubois komplementieren diese Männerrollen, als Balletttänzerin mit der eigenen möglichen Bedeutungslosigkeit hadernd und damit dem vermeintlichen Genie hoffnungslos überlegen, als Fliegergattin zwischen Selbstermächtigung und Unterwerfung, als Jane sexuell frustriert von Tarzan, der lieber eine schwierige Bastelaufgabe lösen möchte.

Zwei Klaviere flankieren die Bühne, auf denen meist Bendix Dethleffsen spielt, manchmal Fee Aviv Dubois, wobei Musik oft auch aus unerwarteter Ecke kommt, aus der Trockenschleuder beispielsweise, die überhaupt wenig berechenbar ist. Mal geht darin ein Textilstück verloren, dann fängt sie plötzlich an zu rotieren, wie überhaupt der Raum (Bühne: Duri Bischoff) ein wundersames Eigenleben führt. Aus zwei Lautsprechern knackst es, später erklingt daraus die Stimme des kleinen Sohnes der Lindberghs, schon bereit, die Rolle des Mannes im Haus zu übernehmen.

Das mag derweil alles nach mehr Action klingen, als an diesem Abend tatsächlich zu erleben ist, auch wenn es einige hinreißend präzise Slapstick-Einlagen zu sehen gibt. Marthaler, Meister der Entschleunigung, lässt das alles und noch ein bisschen mehr über knapp zwei Stunden mit viel Pause abrollen, in einem Rhythmus, der eher fließt als pulst.

Am Ende floaten die sechs Ensemblemitglieder auf Rollbrettern über den Boden, als schwämmen sie in einem Pool, stoßen ab und an aneinander, während ganz langsam die Lichter ausgehen. Endlich Ruhe in der Einsamkeit und im Schweigen. Und damit ein angenehm unkraftmeierischer, seinen Figuren mit liebevollem Spott zugewandter Kontrapunkt zum ausladenden »Hamlet« von Frank Castorf, der einige Tage zuvor die Spielzeit am Schauspielhaus eröffnete.

Nächste Vorstellungen: 25.10., 5. und 17.11.
www.schauspielhaus.de

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