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Berlin 647 Kilometer – Gott sei Dank!

Lena Ens hat sich auf die Suche nach »Orten des Erinnerns an die deutsche Einheit« begeben

  • Pia Sophie Roy
  • Lesedauer: 5 Min.
Neun Meter hoch und rund 50 Tonnen schwer ist das Denkmal »Deutsche Einheit« auf einem Parkplatz der Bundesautobahn 2 bei Helmstedt (Niedersachsen).
Neun Meter hoch und rund 50 Tonnen schwer ist das Denkmal »Deutsche Einheit« auf einem Parkplatz der Bundesautobahn 2 bei Helmstedt (Niedersachsen).

Bereits in der Nacht auf den 3. Oktober 1990 setzten zahlreiche Gemeinden, Vereine und Initiativen mit der Pflanzung eines Baumsetzlings oder der Errichtung eines Gedenksteins ein Denkmal für die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten«, schreibt Anne Kaminsky, Vorsitzende der Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur, in ihrer Einleitung zum hier vorzustellenden Band. Der sich als Einladung versteht, »die Vielzahl und Vielfalt der Erinnerungszeichen zu entdecken und den öffentlichen Raum als Spiegel gesellschaftlicher Auseinandersetzung mit der Geschichte der Einheit zu lesen«. Vielzahl ja. Aber Vielfalt?

Lena Ens hat 250 »Orte des Erinnerns an die deutsche Einheit« aufgesucht. Das erste Foto des selbstredend reich illustrierten Bandes (schließlich will man dokumentieren) zeigt einen Findling, gleich den allseits bekannten und allerorten in Deutschland zu findenden Bismarck-Steinen (Kanzler der ersten deutschen Einheit, 1871), der in diesem Fall indes der sogenannten Wiedervereinigung gewidmet ist. Hier in Itzehoe, einer Kleinstadt in Schleswig-Holstein, aber zuhauf zu finden in ganz Deutschland. So viel zur Vielfalt respektive Einfalt.

Den Band eröffnet ein historischer Exkurs aus der Feder von Robert Grünbaum, gebürtiger Leipziger (Jg. 1967) und seit 2001 stellvertretender Geschäftsführer der Bundesstiftung: »Von der Revolution zur Einheit – Ein deutsches Jahr«. Er beginnt mit dem welthistorischen »Missverständnis«, das SED-Politbüromitglied Günter Schabowski auf einer internationalen Pressekonferenz am 9. November 1989 verzapfte. »Zu Tausenden strömten sie an die Grenzübergangsstellen in Berlin und erzwangen deren Öffnung. Noch am selben Abend hoben sich die Schlagbäume – ohne Plan, ohne Befehl, ohne Gewalt. Kein Schuss fiel. Stattdessen liefen die Menschen einfach los. Erst zaghaft, dann entschlossener. Sie drängten über die Grenze, riefen, lachten und weinten vor Glück. Sie feierten ein spontanes Volksfest auf dem Kurfürstendamm und tanzten auf der Mauer.«

Nachdem Grünbaum in chronologischer Folge die Ereignisse vom Herbst ’89 über die Volkskammerwahlen am 18. März 1990, die Währungsunion am 1. Juli, die Zwei-plus-Vier-Gespräche und den am 31. August des Jahres unterzeichneten und am 20. September von Volkskammer und Bundestag verabschiedeten Einigungsvertrag rekapituliert hat, beginnt die alphabetische Auflistung der Erinnerungsorte für die deutsche Einheit, akribisch von der Historikerin Lena Ens erstellt.

Baden-Württemberg macht den Anfang, gefolgt von Bayern. Hässlich graue Felsbrocken, eingemeißelt darin das Datum des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik, versprühen weder Jubel, Frohsinn noch Euphorie und transportieren auch keinerlei Botschaft an die Menschheit. Als »Denkzeichen« getitelt ist ein von Maria Vill und David Mannstein aufgestellter Streckmetallzaun, der dereinst die Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik markierte – übrigens, gefertigt vom »Klassenfeind«, der Firma Krupp. Und im »Park der Deutschen Einheit« im oberbayerischen Burghausen werden zwei Originalsegmente der Berliner Mauer präsentiert.Auch nicht sehr originell, die gibt’s in jeder größeren deutschen Stadt.

Dergleichen in ganz Westdeutschland, vom Süden bis hinauf in den Norden, Hessen und Schleswig-Holstein. Vielfach sind Tafeln und Steine, die zu Zeiten des Kalten Krieges den »Volksaufstand« am 17. Juni 1953 in der DDR feierten, lediglich mit dem Datum der »Wiedervereinigung« ergänzt worden, ohne jeglichen Kommentar. Das lässt tief blicken in die Seele der Brüder und Schwestern westliche der Elbe. Und was kann aussagekräftiger sein als der auf Einheitsbrocken in Baden-Württemberg gemeißelte Hinweis: »Berlin 647 Kilometer«. Gott sei Dank! Vielerorts wurden »Friedens-« und »Vereinigungsbäume« gepflanzt, zumeist deutsche Eiche und Linde. Und wie viele Plätze der deutschen Einheit gibt’s inzwischen?! Ungezählt.

In Niedersachsen, unweit der Gedenkstätten zur deutschen Teilung in Helmstedt und Marienborn, ragt direkt an der Bundesautobahn 2, auf schweren Granitblöcken ruhend, eine neun Meter hohe gusseiserne Figur in den Himmel, informiert Lena Ens. »Der französische Bildhauer Josep Castell schuf zwei ineinander verschlungene Hände, die auf zerborstenen Mauerresten ruhen.« Der Ossi denkt da erst mal an das Symbol für die Sozialistische Einheitspartei Deutschland (SED), hervorgegangen aus einer anderen Art von Einheit – der Arbeiterklasse 1946, als Lehre aus deren Niederlage 1933 aufgrund ihrer Spaltung. Hm.

Ja, wie steht es eigentlich um die Erinnerungsmale in Ostdeutschland? Auch hier wurde Lena Ens fündig. »Aus Freude über die Wiedervereinigung fertigte der ehemalige Gießmannsdorfer Steinmetz Herbert Küchler aus eigenen Mitteln einen Gedenkstein zur Erinnerung an die deutsche Einheit und platzierte diesen am Ortseingang«, erfährt man. Und versinkt zugleich in Trauer. Des wackeren Mannes Arbeit im Brandenburgischen Luckau mutet wie ein Grabstein an. Womit er kein Alleinstellungsmerkmal beanspruchen kann. Etliche andere Erinnerungsmale der »Wiedervereinigung« von Suhl bis Rostock strahlen ebenfalls Friedhofsatmosphäre aus. Vielleicht sollte man das aber nicht überinterpretieren.

In Bad Doberan, einer Kleinstadt westlich von Rostock, erinnert auf einer Wiese ein Gedenkstein an Michail Gorbatschow, ohne den der 3. Oktober 1990 undenkbar wäre. Der letzte KPdSU-Generalsekretär wünschte: »Der deutschen Nation Glück Gedeihen Frieden im vereinten Europa.« Ohne Kommasetzung. Origineller ist eine Installation in Waren/Müritz der Künstler Dagmar Korintenberg und Wolf Kipper, die Forderungen der DDR-Bürger und Bürgerinnen im Herbst 1989 aufgreift.

Berlin glänzt ebenfalls nicht mit Kreativität und Einfallsreichtum. Im Westteil der Stadt gelten Skulpturen der US-Präsidenten Ronald Reagan (»Mr. Gorbatschow, tear down this wall!«, 1987) und George W. Bush Senior (der 1990 Margaret Thatcher und François Mitterrand die Angst vor einem neuen Großdeutschland austreiben musste) als Erinnerungsmale zur deutschen »Wiedervereinigung«. Und natürlich wird ebenfalls per Skulptur und Gedenktafel dem »Kanzler der Einheit«, Helmut Kohl, gedankt. Die »Einheitswippe«, die als Freiheits- und Einheitsdenkmal schon vor einem Jahrzehnt vor dem Berliner Schloss aufgestellt werden sollte, bleibt hingegen ein Phantom. Gott sei Dank.

Kurzum, wir haben Lena Ens und der Stiftung Aufarbeitung ein höchst aufschlussreiches Kompendium zu verdanken.

Lena Ens: Orte des Erinnerns an die deutsche Einheit. Metropol-Verlag, 246 S., geb., 24 €.

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