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Die Selbstmordspirale
Linn Stalsberg hat einen zornigen Essay gegen Krieg und Aufrüstung verfasst
Mit welchem Recht maßen sich Staaten und ihre sogenannten Volksvertreter an, Grenzen zu schließen und jungen Männern den Weggang zu verbieten, weil sie nicht sterben wollen oder andere Männer totschießen möchten? So geschehen beispielsweise in der Ukraine jüngst. Und hätten israelische Politiker nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 nicht andere Möglichkeiten gehabt, die Terroristen zu bekämpfen, als unschuldige Zivilisten sterben und leiden zu lassen? Solche Fragen stellt die norwegische Journalistin und Soziologin Linn Stalsberg in ihrem zornigen »Essay über den Frieden«.
»Israel zerstört Gaza, um die Hamas zu zerschlagen. Doch gleichzeitig wird so viel mehr zerstört: die Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben im Nahen Osten in der Zukunft, der Glaube an eine Zweistaatenlösung, das Vertrauen in die Autorität der Vereinten Nationen und das, was wir gern als moderne Idee von Wert und Würde aller Menschen betrachten.« Dies schrieb sie vor der sich jetzt anbahnenden Waffenruhe in Nahost, die hoffentlich halten wird.
Der Titel dieses Buches ist zugleich ein grundsätzliches Bekenntnis: »Krieg ist Verachtung des Lebens«. Verzweifelt fragt sich Stalsberg, wohin die Bewegungen für den Frieden verschwunden sind, die in früheren Jahren Massendemonstrationen organisierten. Sie schaut in die Vergangenheit und vertieft sich in die Geschichte pazifistischer Proteste und Widerstandsformen im 20. Jahrhundert, gibt einen Überblick über Religionen, Ideologien und politische Bewegungen, die für Frieden werben, und zitiert den US-amerikanischen Präsidenten und vormaligen Weltkriegsgeneral Dwight »Ike« Eisenhower, der bei seinem Abschied im Januar 1961 vor dem »militärisch-industriellen Komplex« warnte: »Jedes Gewehr, das hergestellt wird, jedes Kriegsschiff, das ins Wasser gelassen wird, jede Rakete, die abgefeuert wird, bedeutet einen Diebstahl an jenen, die hungrig sind und nichts zu essen haben, und an jenen, die frieren und keine Kleidung haben.«
Stalsberg geht der Frage nach den gesellschaftlichen Wurzeln der Gewalt nach. Frieden werde kommen, sobald der Kapitalismus abgeschafft sei, hieß es einst in der organisierten Arbeiterbewegung. »Um zu funktionieren, ist der Kapitalismus auf die ständige Nachfrage nach Gütern angewiesen«, schreibt Stalsberg, »und die Rüstungsindustrie hat den Vorteil, dass in einer Welt, in der ständig Kriege geführt werden und in der wir unsere Sicherheit in bewaffnete Hände legen, die Nachfrage nach Waffen niemals versiegt.« Das bedeute nicht, dass der Kapitalismus aktiv Krieg anstrebe, meint die Autorin. »Doch für den Kapitalismus als System sind Krieg oder die Gefahr von Krieg, Aufrüstung und die Rüstungsindustrie wirtschaftliche Vorteile.«
Stalsberg befasst sich mit Kriegspropaganda und Lobbyismus. Sie spricht sich gegen weibliche Wehrpflicht aus. Diese führe nicht zur Frauenbefreiung, sondern stärke eher die Vorherrschaft des Mannes. »Weibliche Wehrpflicht mag gut für die Gleichstellung der Geschlechter sein: gleiche Möglichkeiten, im Krieg zu töten und zu sterben oder als Soldatin eingezogen zu werden. Doch für die Frauenbefreiung, die ein viel höheres Ziel als die Gleichstellung darstellt, bedeutet sie einen erheblichen Rückschlag.« Ein Rückschlag für die Friedensbewegung und »ein Schlag ins Gesicht all jener Frauen, die in der Geschichte für den Frieden eingetreten sind«.
Im vorletzten Kapitel, »Krieg in Zeiten der Klimakrise«, liefert Stalsberg empörende Zahlen: 2022 seien die weltweiten Militärausgaben auf 2240 Milliarden Dollar (knapp zwei Billionen Euro) geschätzt worden und machten damit rund 2,2 Prozent des weltweiten Bruttonationalprodukts aus. »Laut Welternährungsprogramm würden 12 Prozent dieses Betrags ausreichen, um den weltweiten Hunger zu beenden.« Und eine umfassende Studie im Fachjournal »Nature Climate Change« habe ergeben, dass »die Emissionsreduktionen, die erforderlich wären, um die Erderwärmung unter zwei Grad zu halten«, etwa jenen Betrag benötigten, der weltweit für Rüstung verbraten wird.
Stalsberg hat ein zorniges Buch gegen den vorlauten Zeitgeist in Aufrüstungszeiten verfasst. Ein Buch, das den Blick wendet, an Friedensfreunde und Kriegsverweigerer erinnert und für die Gegenwart aufrütteln will. Sie setzt auf Vernunft, muss aber in herrschenden Politikerkreisen vor allem Unvernunft registrieren. »Es ist kaum zu begreifen, dass wir in einer Epoche, in der die Welt durch den alles Leben bedrohenden Klimawandel zu kippen droht, riesige Summen für die Entwicklung von Waffen ausgeben, die Menschen und Umwelt zerstören. Es ist, als wäre die Menschheit unbewusst in eine Art Selbstmordspirale geraten, in der Krieg und Klimakrise sich gegenseitig verstärken.«
Linn Stalsberg versucht, gegen weitverbreitete Apathie und Ohnmacht anzuschreiben, die Menschen wachzurütteln. Sie beharrt darauf, dass Kriege nicht im Wesen des Menschen angelegt seien und es in unser aller Hand liege, aufzustehen und sich lauthals zu wehren.
Linn Stalsberg: Krieg ist Verachtung des Lebens. Ein Essay über den Frieden. A. d. Norweg. v. Andreas Donat. Kommode-Verlag, 312 S., geb., 24 €.
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