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Notfallsanitäter: »Der Rettungsdienst wird völlig überlastet«
Nach dem Bundestag soll nun der Gesundheitsausschuss über eine Reform des Rettungsdienstes beraten. Gespräch mit einem Notfall-Pionier
Herr Chwojka, warum braucht es eine Rettungsdienstreform?
Deutschland hat in den letzten 20 Jahren sämtliche Entwicklungen im Rettungswesen versäumt. Das, was bisher noch ohne digitalen und organisatorischen Fortschritt funktioniert hat, nämlich einfach immer mehr Geld ins System reinzuschütten und verschiedene Probleme damit zu beheben, funktioniert heute nicht mehr. Es fehlen dafür die personellen und finanziellen Ressourcen. Vor 20 Jahren hat man in der präklinischen Rettung noch ehrfurchtsvoll nach Deutschland geschaut. Heute fragt man: »Wo seid ihr falsch abgebogen?« Die Notfall- und Rettungsdienstreform ist die Gelegenheit, alles aufzuholen. Inzwischen ist es nicht die Frage, ob das System an die Wand fährt, sondern wie gut wir alle angeschnallt sind.
Wo liegen die Kernprobleme?
Weil die Regelversorgung oft nicht mehr funktioniert, kommt der Rettungsdienst nun nicht mehr nur zu den klassischen Notfällen wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Unfall oder allergischem Schock, sondern wird mit sogenannten Low-Level-Events, Ereignissen ohne Dringlichkeit, völlig überlastet. Wo früher der Hausarzt zum 84-Jährigen mit verstopftem Blasenkatheter gekommen ist und noch die Medikamente kontrolliert hat, kommt heute der Rettungsdienst. Er ist inzwischen so etwas wie der Libero des Gesundheitssystems – die letzte Verteidigung: Alle ziehen sich aus der akuten Notfallversorgung zurück, übrig bleibt die 24/7-Rettung.
Christof C. Chwojka, geboren 1968 in Österreich, gründete und leitet zahlreiche Projekte wie »Notruf NÖ«, die telefonische Gesundheitsberatung 1450 und die »Rettungslandschaft-NEU«. Seit 2023 ist er Geschäftsführer der Björn-Steiger-Stiftung in Winnenden. Als Notfallsanitäter, Feuerwehrkommandant und IAED-zertifiziertes Multitalent erhielt er zahlreiche Verdienstmedaillen.
Und wenn es dann wirklich um Leben und Tod geht, ist keiner mehr da.
Genau. Und da wir noch dazu eine Konzentration der Facharztabteilungen haben, heißt das, die Rettung transportiert den Patienten mit verstopftem Blasenkatheter vom Altenheim zum 60 Kilometer entfernten Hospital mit urologischer Abteilung und das Ganze wieder zurück – eine Tortur, die völlig absurd ist. Das heißt, wir brauchen neue Versorgungs- und Finanzierungsmodelle und eine Leitstelle, die nicht jedes Mal die Rettung schickt, sondern auch Gesundheitsberatung macht.
Was wäre im Fall des verstopften Blasenkatheters eine Alternative?
In anderen Ländern gibt es deshalb aufsuchende Acute Community Nurses (Gemeinde-Notfallsanitäter, d. Red.) mit Notfallsanitäter- und Krankenpflege-Diplom, die tun, was früher der Hausarzt gemacht hat. Diese ACNs, und vor allem auch Akutsozialarbeiter, sind im Rettungsdienst spürbare Entlastungen.
Und was ist, wenn es noch schneller gehen muss?
Deutschland hat 240 Leitstellen, die ohne einheitliche internationale Standards agieren. Jeder Landkreis macht es, wie er denkt. Mit anderen Worten, die Leitstellen sind ineffizient, wenn es um die Wurst geht: bei der Telefon-Reanimation, der Ersthelfer-Alarmierung bei grenzüberschreitenden Ereignissen. Die Hilfsfristen bei einem Herzinfarkt, der in Shanghai der gleiche ist wie in Stuttgart, variieren je nach Bundesland zwischen acht Minuten in NRW und 17 in Thüringen. Jede dieser Fristen ist da viel zu lang. Völlig absurd!
Zwölf Bundesländer haben keine gesetzlichen Regelungen zur Qualität der Notrufabfrage.
Ja, es ist zum Beispiel internationaler Standard, dass die Leitstellen bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand Sie sofort zur Reanimation anleiten und über Apps Ersthelfer in Ihrer näheren Umgebung losschicken. In Deutschland gibt es das nur punktuell.
Warum fällt es Deutschland schwer, eine schnelle, bereichsübergreifende Notfallversorgung aufzubauen?
Jeder Verband, jede Organisation, jeder Stakeholder schaut auf sein Budget und hat sich so organisiert, dass er ein gutes Auskommen hat. Einzelne sind dabei Milliardenunternehmen mit hoher politischer Verflechtung. Wenn Sie sagen, wir müssen alles neu denken und Grundsätzliches ändern, kommt das nicht gut an. Deshalb brauchen wir entweder das Prinzip »Geld folgt Leistung«, dann gehört der Rettungsdienst ins Fünfte Sozialgesetzbuch und wird nicht nur für den Transport bezahlt, sondern auch für die Leistung vor Ort – oder die Finanzierung kommt aus einer Hand wie im britischen nationalen Gesundheitsdienst.
In Österreich waren Sie für die Einführung der telefonischen Gesundheitsberatung 1450 verantwortlich, das Pendant zur deutschen 116 117. Was war die Idee dahinter?
Es braucht eine Leitstelle, die gute Gesundheitsberatung mit der Betonung auf Beratung macht, die Probleme der Anrufer löst und nicht nur in einer Minute einen Arzttermin vereinbart. Oft braucht es keinen Arzt. Die durchschnittliche Gesprächszeit von 1450 liegt bei 13 Minuten und kostet einen Bruchteil dessen, was ein Krankenhausaufenthalt oder Arztbesuch kostet. Mal braucht es ein E-Rezept aufs Handy oder den Service, um etwas aus der Apotheke zu holen. Und wenn man den Arzt braucht, kann man den im Jahr 2025 auch mal via Telemedizin durchschalten. Wir müssen wieder da hinkommen, dass Krankenhäuser sich um die wirklich Kranken kümmern und Rettungsdienste um die echten Notfälle.
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