Die Hinterlassenschaften der Toten

Eine genetische Untersuchung von Fäkalien lässt in die Vergangenheit blicken

  • Andreas Knudsen
  • Lesedauer: 4 Min.
Im vorkolumbianischen Mexiko ernährten sich Menschen unter anderem von Agaven.
Im vorkolumbianischen Mexiko ernährten sich Menschen unter anderem von Agaven.

Vor 1000 bis 1200 Jahren lebte eine Gruppe von Menschen in der Gegend des heutigen Durango im nördlichen Mexiko. Es ist nicht bekannt, welche Sprache sie sprachen und zu welcher Ethnie sie gehörten, aber jüngste genetische Untersuchungen ihrer Hinterlassenschaften – im buchstäblichen Sinne – gestatten einen Einblick in ihr tägliches Leben.

In der Höhle La Cueva de Los Muertos Chiquitos (Die Höhle der toten Kinder) wurden schon vor 70 Jahren Ausgrabungen vorgenommen, von denen einige Fundstücke – nämlich Fäkalien – erst heute mit modernen Methoden untersucht werden können. Man kann von Glück sprechen, dass die Archäologen Ende der 50er Jahre sie nicht einfach als wertlos wegwarfen, wie es damals noch häufig geschah, sondern sorgfältig im Labor aufbewahrten, bis es dafür Analysemethoden gab. Die Fäkalien konnten sich über 1000 Jahre bewahren, weil die Gegend damals so wie heute von Trockenheit gekennzeichnet war und der Zerfallsprozess biologischer Materialien daher sehr langsam vor sich geht.

Die Analyse der Fäkalien bestätigte das Bild, das man bereits aus anderen archäologischen Funden gewonnen hatte. Die Menschen der Loma-San-Gabriel-Kultur waren beeinflusst von den Kulturen Zentralmexikos, die zu diesem Zeitpunkt schon seit 1000 Jahren blühten, aber sie waren noch vorzugsweise Sammler von Wildpflanzen und Jäger von Kleinwild. Sie hatten zwar begonnen, Mais und Sonnenblumen anzubauen, aber Kulturpflanzen bildeten noch nicht den Hauptteil ihrer Nahrung. Die Analyse der Fäkalien ergab, dass die Agave einen Gutteil ihrer täglichen Diät ausmachte. Wie genau die Menschen sie zubereiteten, kann man nicht herauslesen, aber das fleischige Herz dieser Pflanze, reich an Zucker, kann gekocht oder gebacken werden. Die Blütenstände und -knospen können roh, geröstet oder gekocht verzehrt werden. Der Saft kann zu Pulque, einem leicht alkoholischen Getränk, zubereitet werden und wurde zumindest im vorkolumbianischen Zentralmexiko getrunken. Bei den Ausgrabungen fanden die Archäologen Reste von Agavenblättern, an denen deutlich menschliche Bissspuren sichtbar waren, die wiederum die genetische Analyse bestätigten. In den Fäkalien wurden auch Mais- und Sonnenblumen-DNA nachgewiesen, physische Reste dieser Pflanzen fand man nicht mehr.

Die Fäkalien konnten sich über 1000 Jahre bewahren.

Die Fäkalien erzählten noch Weiteres über die Lebensumstände der Menschen damals. Sie litten vor allem unter Shigellen-Bakterien, die heftigen Durchfall verursachen. In Europa ist Shigellose heutzutage als typische Reisekrankheit bekannt. Verursacht wird sie durch kontaminiertes Wasser, das Menschen beim Trinken oder Waschen aufnehmen.

Bei der Analyse der Fäkalien wurden auch Hinweise auf den parasitären Madenwurm gefunden. In der Forschung ist umstritten, ob dieser unangenehme Begleiter des Menschen erst als Teil des kolumbianischen Austausches ab 1492 nach Amerika kam oder ob er überall ein gewissermaßen natürlicher Begleiter des Menschen ist. Der kolumbianische Austausch bezeichnet den umfangreichen Prozess der Verbreitung von Tieren, Pflanzen, aber auch Pathogenen zwischen der Alten und Neuen Welt. Die vorliegende Studie gibt einen Fingerzeig, dass der Madenwurm im alten Amerika endemisch war. Die Forscher weisen allerdings auch darauf hin, dass die untersuchte Anzahl von Fäkalien, die nur von zehn Menschen stammt, nicht ausreichend ist, um weitreichende Schlüsse zu ziehen. Hier müssen weitere Untersuchungen nicht nur von diesem Fundort, sondern auch anderen, die geografisch und zeitlich entfernt sind, vorgenommen werden.

Es ist nicht das erste Mal, dass DNA-Untersuchungen prähistorischer Fäkalien ein neues Fenster zur Vorzeit öffnen. So entdeckte der dänische Genforscher Eske Willerslev Fäkalien in der Paisley-Höhle in Colorado. Diese Menschen gehörten einer anderen Kultur als der Clovis-Kultur an, die man bis dahin als die älteste in Nordamerika und eine Art Stammkultur aller folgenden angesehen hatte. Dieser unscheinbare Fund verschob die Einwanderung nach Amerika um 1000 Jahre zurück. Scheinbar unwichtige Funde, mit denen derzeit noch nichts anzufangen ist, können mit Analysemethoden der Zukunft den Schlüssel für ein besseres Verständnis der Vergangenheit liefern.

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