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Jürgen Ploog: Der Godfather von Underground

Ein Reader über den bekannten unbekannten Autor Jürgen Ploog

  • Franz Dobler
  • Lesedauer: 6 Min.
Jürgen Ploog (l.) blieb dran – hier mit seinen Freunden Peter Orlovsky, Carl Weissner und Allen Ginsberg.
Jürgen Ploog (l.) blieb dran – hier mit seinen Freunden Peter Orlovsky, Carl Weissner und Allen Ginsberg.

Einst gab es eine »New Adult«-Literatur, die nicht so verträumt und nett geschrieben war. Tatsache. Die deutschen Beatliteraten bekamen in den 60er Jahren ihre Kicks von der amerikanischen und überführten, vereinfacht gesagt, Psychedelic-Rock und andere Protestsignale vehement in Sprache, um die guten Sitten der Nachkriegsgesellschaft und -literatur zu zerlegen. Einige der Protagonisten kamen früher oder später im bekannten Teil des Literaturbetriebs an. Ob sie wollten oder nicht, tot oder lebendig, zum Beispiel Rolf-Dieter Brinkmann, Elfriede Jelinek, Jörg Fauser.

Mit dem Autor Jürgen Ploog (1935–2020) ist das nicht passiert. Was nichts heißt, außer dass es spannend ist: der große Unbekannte! Allerdings wie aus einem Film der Schwarzen Serie: Der Schein trügt, und Verfolger, die genauer hinsehen, entdecken starke Spuren, die der große Unbekannte hinterlassen hat und dass er nicht vergessen ist. Sondern »Godfather des deutschen Undergrounds« – so nennt ihn Ralf-Rainer Rygulla in einem neuen Ploog-Reader. Rygulla hatte 1969 mit Brinkmann beim damals neu gegründeten März-Verlag die Anthologie »Acid – Neue Amerikanische Szene« herausgegeben.

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Den Acid-Stoff hatte Jürgen Ploog schon intus, als im selben Jahr mit Cola-Hinterland seine Literaturspur anfängt (seinen Hauptberuf als Flugkapitän bei der Lufthansa betrachtete der Frankfurter Autor immer nur als Nebenberuf), und nach fast vierzig weiteren Titeln endet die Spur vorläufig mit dem Band »Ploog West End«. Ein Rundflug über Leben, Werk, Wirkung und Zeit. Ein großartiger Reader, eine Montage aus Prosa, journalistischen Arbeiten, Tagebuch (ohne Banalitäten), Interviews, Briefe von und an Kathy Acker oder William S. Burroughs. Ergänzt mit literaturwissenschaftlichen Essays, einem guten Dutzend Zeugenaussagen (unter anderem von Frank Witzel, Martina Weber, Edo Popović, Alfred 23 Harth, Jamal Tuschick) und Nachrufen, die ebenfalls substanziell erzählen (vom lebenslangen Freund Wolf Wondratschek oder vom enthusiastischen Fan Clemens Meyer). Dazu ein tolles Arsenal an Abbildungen, Privates und Literaturgeschichte, von seltensten Covers über vollgekritzelte Sketchbookseiten und Allen-Ginsberg-Postkarten bis zum Foto »Pilotenausbildung 1958«.

Es war der Beruf des Langstreckenpiloten, der Ploogs Schreiben prägte und ihn zum Sonderfall im Literatur-Underground machte. Der Schreiber mit dem seriösen Traumjob veröffentlichte 1970 so was wie »Die Fickmaschine« und gründete mit dem so heftig studierten wie umtriebigen Carl Weissner, dem innovativen Grafiker Walter Hartmann und einem Jörg Fauser, der Nachtschicht am Frankfurter Flughafen arbeitete, um beim Schreiben auch zu überleben, das Magazin »Gasolin 23«. Acht Nummern konnten der deutschen Literatur nur im Underground einen neuen Style verpassen, sind aber heute legendär. Zeichen einer deutsch-amerikanischen Freundschaft, die ganz »Ploog West End« durchzieht.

Inspiriert von Burroughs hatte sich Ploog der Cut-up-Methode verschrieben, eine Collage-Montage-Schnitt-Technik (Zentrum der Essays von Sigrid Fahrer und Enno Stahl), die mit linearem, also ordentlichem Erzählen wenig, mit Zufällen und frappierenden Zusammenstößen viel zu tun hat, um aus dem »Raum hinter den Worten« Neues zu erzeugen. Als Text-DJ mischte Ploog eigene mit Fremdtexten, Science-Fiction-Atmosphäre mit Reise-Beobachtungen des Piloten, Action-Sprüche mit Nachrichten, knappe Bettszenen mit Theorie. Und die penibel geführten Tagebücher, eine echte Entdeckung in diesem Buch, waren seine permanente Materialsammlung, um eine Anti-Beruhigungs-Literatur zu erzeugen, in der Leser*innen von den Figuren kein »So geht’s mir auch«-Gefühl erwarten können. Für ihn mit seinem Ständig-unterwegs-Job, erklärte der Autor, war Cut-up die einzig mögliche Art zu schreiben.

Diese Experimente blieben im Underground, Ploog war nie wie Brinkmann als Poesie zu verkaufen, aber er blieb trotzdem dran – und in seinem Beruf, weshalb er sich von geringen Auflagen in Kleinverlagen nicht beeindrucken lassen musste. Außer dass ihn die Frage begleitete, warum Cut-up, anders als in Musik, Film oder Kunst, in der Literatur keine gängige Methode wurde, trotz großer Ausnahmen.

Mit seinen Burroughs-Essays fütterte er immer wieder souverän die Kritiker, die ihn nur als Epigonen abhaken wollten. Und kollaborierte mit dem Musiker Alfred 23 Harth, nicht im Sinn von Literaturlockerung durch Soundtapete, sondern Cut-up als Herausforderung zur Kombination (mit dem Verweis, dass neben einigen Publikationen der späten Jahre beim Label/Verlag Moloko Plus auch das Sound-Memorial »Beeing On The Beat« mit Würdigungen unter anderem von Tarwater, Herbst in Peking und vielen Dokumenten erschienen ist).

Als ich Ploog und seine Produktion Anfang der 80er kennenlernte, war er bereits eine sagenhafte Gestalt. Wovon die meisten der versammelten Fans der Post-60er-Generation berichten. Allein schon Titel wie »Pacific Boulevard« oder »Nächte in Amnesien« waren magnetisch und hielten, was sie versprachen, wenn man bloß nichts mit Walser-Grass-Zeug zu tun haben wollte. Mit einem deutsch-kroatischen Wörterbuch war Edo Popović auf der Jagd nach Underground-Spuren, und es war »die Art und die Energie, mit der diese Prosa geschrieben war«, die ihn beeindruckte und beeinflussen sollte.

Besonders wirkungsvoll war die von Ploog 1980 mit Pociao und Hartmann herausgegebene Anthologie »AmokKoma«, ein Echo auf »Acid«, jetzt im Zeichen von Punk und New Wave, Literatur verschärft durch Gestaltung und alle möglichen gesellschaftspolitischen und technologischen Anmerkungen.

Einladungen von neueren Underground-Szenen wie »60/90« oder Social Beat nahm er an, immer auf der Außenseiterposition, der ältere Herr mit Anzug, Krawatte, Trenchcoat, Hut. Dessen Kritik, es reiche ja wohl nicht, es sich auf der Bukowski-Schiene gemütlich zu machen, eher zu wenig beachtet wurde. »Underground« als Verhaltensregel interessierte ihn nicht, und »Gentleman« ist wahrscheinlich, betont Ni Gudix in ihrem Beitrag, der häufigste Ausdruck in diesem Reader über einen Autor, der Distanz pflegte und Literatur als »Herzenssache« ablehnte. Vor allem weigerte er sich, in die Falle zu gehen: eine hübsch geradlinige Erzählung mit einem Flugkapitän in der Hauptrolle. Die Cut-up-Teile davon schleudern natürlich durch neuere Bücher wie »Undercover« oder »Unterwegs sein ist alles« oder »Ferne Routen«, die Ploog konstant bis zuletzt veröffentlichte.

Genug Entdeckungen bietet »Ploog West End« selbst für altgediente Leser. Neben 30 Seiten Tagebuch Un- und extrem entlegen Veröffentlichtes oder kitschige Frauenakte des gelernten Grafikers oder scharfe Kritik vom besten Freund Wondratschek (»Na, statt Pampelmusensaft n bisschen Möse, was?«, hatte Ploog im ebenfalls abgedruckten Text »1962« eingebaut, »Mein lieber Hochleistungs-Pilot im Ruhestand. Laß endlich diese Sprüche sein«, lautete am 25.2.2000 Wondratscheks Konter) und vor allem »Todesschatten«, Ploogs nie veröffentlichte Reflexion zum frühen Tod seiner Tochter.

Gibt es dazu inzwischen eigentlich mehr Bewegung im Literaturbetrieb? Jedenfalls gab es zum Buch kürzlich eine Tagung, veranstaltet von der Universität Rostock zusammen mit der Goethe-Universität unter dem Titel »Der Raumagent in der Bewusstseinsschleife – Zur Poetik des Avantgardisten Jürgen Ploog«. Und auch für den Frankfurter Antiquar Wolfgang Rüger, erfahrener Begleiter von Beat und Ploog, der seinen Nachlass betreut und der diesen Reader zusammen mit dessen Sohn David Ploog herausgegeben hat, gibt es noch viel zu tun: »Der Großteil meines ›Werks‹ (liegt) in der Schublade«, schrieb der damals 70-jährige Autor, »mindestens 1600 Seiten.« Garantiert gut für Leute, die auf der Suche nach anderen Bahnen in der großen Buchstabensuppe sind.

David Ploog/Wolfgang Rüger(Hg.): Ploog West End. Edition W, 345 S., geb., 25 €.

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