Die autoritären Antiautoritären

Yossi Bartal wundert sich über antideutsche Autonome und andere sehr deutsche Linke

Bei der Demonstration »Queers for Palestine« 2024.
Bei der Demonstration »Queers for Palestine« 2024.

Angelo hieß der Mann, der Anfang der 2000er Jahre bei jeder linken Demo in Jerusalem anwesend war – bei den Aufmärschen alleinerziehender Mütter gegen Sozialkürzungen, bei Protesten gegen die Diskriminierung äthiopischer Juden und natürlich auch bei den ständigen Mahnwachen gegen die Besatzungspolitik in den palästinensischen Gebieten. Freundlich und etwas schüchtern trug der Mittvierziger, der in einem mizrahischen Arbeiterviertel lebte und dessen Herz für den Sozialismus brannte, stets dasselbe weiße T-Shirt – mit einem Porträt von Josef Stalin. Wir gingen davon aus, dass er mehrere davon besaß.

Yossi Bartal

Yossi Bartal ist seit 2006 ein begeisterter Wahl-Neuköllner. Aufgewachsen in West-Jerusalem lernte er früh, dass Selbsthass die edelste Form des Hasses ist. Mit einer gesunden Dosis Skepsis gegenüber Staat und Gesetz schreibt er für nd.Digital jeden dritten Montag im Monat über Parallelgesellschaften, (Ersatz-) Nationalismus und den Kampf für eine bessere Welt.

In unserer marxistischen Jugendgruppe war Angelo oft Thema. Selbst für uns, die mit 15 Jahren Engels und Lenin lasen und T-Shirts mit Che Guevara-Porträts trugen, wirkte der Mann mit dem Bild eines Massenmörders auf der Brust wie aus der Zeit gefallen. Auf mich erschien er eher wie eine Karikatur – eine Warnung, wohin man sich entwickeln kann, wenn alte Schriften und Dogmen die Oberhand gewinnen.

Mit der Zeit entfremdete ich mich auch von unserem kleinen Kreis im Büro der Kommunistischen Partei – nicht nur, weil mir Konzepte wie die Diktatur des Proletariats zunehmend unangenehm wurden, sondern vor allem, weil queere Raves und direkte Aktionen anarchistischer Gruppen meinem jugendlichen Ich viel cooler erschienen als Mai-Aufmärsche in weißen Hemden oder demokratisch-zentralistische Organisationsstrukturen, in denen mir Wahlzettel mit unbekannten, aber schon angekreuzten Namen in die Hand gedrückt wurden.

Auch in Deutschland zog es mich zunächst zu Gruppen, die höchstens einen ironischen Bezug auf den Marxismus-Leninismus hatten und stattdessen eher basisdemokratische Ansätze verfolgten. Mal nannten sie sich autonom, mal undogmatisch, mal anti-autoritär. Dass auch diese Szene nicht frei war von strengen Verhaltensregeln, Dogmen und sektenartigen, rechthaberischen Streitereien, ganz zu schweigen vom elitären Gehabe, zeigte sich schnell. Konzepte wie Ambiguitätstoleranz oder »revolutionäre Freundlichkeit« waren damals noch nicht en vogue.

Das war allerdings nur halb so schlimm, denn die praktizierten Ein- und Ausschlüsse wurden vor allem untereinander ausgetragen – in besetzten Häusern, in szeneinternen Zeitschriften und in Demoblöcken –, weit entfernt von den gesamtgesellschaftlichen Machtzentren. Dies hat sich allmählich verändert.

Denn einige undogmatische Marxisten und antideutsche Autonome, die man vor 15 Jahren noch im schwarzen Block gesehen hätte, sind in rasantem Tempo in die bundesdeutsche Politik aufgestiegen, arbeiten heute in staatlich finanzierten Projekten und schreiben regelmäßig für bürgerliche oder sogar explizit rechte Medien. Das wirklich Spannende daran – und anders als bei früheren Märschen durch die Institutionen – ist, dass sich diese Akteure gar nicht von ihrer Vergangenheit distanzieren müssen. Ganz im Gegenteil versteht sich bis heute die Mehrheit von ihnen immer noch als Linke und radikale Kritiker des Bestehenden, während sie die Aufstockung des Militäretats fordern oder extreme Polizeigewalt gegen Palästina-Demos verteidigen.

Dieser autoritäre Turn eines Teils der ehemals antiautoritären Linken, die von Deutschlandkritikern zu Staatsräson-Verfechtern und Freunden von Verfassungsschutz und Rüstungsindustrie geworden sind, könnte vielleicht miterklären, warum in der deutschen Linken derzeit ein überschaubares Comeback leninistischer Gruppen zu beobachten ist, die eine Rückbesinnung auf antiimperialistische Positionen verlangen. Die große Mehrheit der Linken, die gegen den autoritären Umbau der Gesellschaft, in Solidarität mit Palästina und für ein Ende der Kriegslogik auf die Straße gehen, scheint dennoch eher liberaldemokratischen Ansätzen zu verfolgen, wie eine Studie der Teilnehmer der Masssendemo für Gaza bestätigt.

Trotzdem scheint das Gespenst der »autoritären Linken« zum neuen Catchword einer Szene geworden zu sein, die sich immer näher an die tatsächliche Autorität in diesem Land heranarbeitet – just in dem Moment, in dem der Antisemitismusbegriff, den sie zuvor so exzessiv genutzt hat, fast vollständig ausgehöhlt ist. Ja, es ist noch zynischer: Die Beschwörung der autoritären Gefahr soll autoritäre Maßnahmen gegen diejenigen rechtfertigen, die gegen den Militarismus auf die Straße gehen.

Die Art, wie der Begriff »autoritär« hier im Sinne eines neuen Autoritarismus umgedeutet wird, erinnert an Orwells »Neusprech« – ein Konzept, das der linke Herrschaftskritiker nicht nur mit Blick auf die Verkommenheit revolutionärer Bewegungen zu mörderischen Regimen, sondern auch aus seiner eigenen Erfahrung mit Propaganda-Sendungen der BBC im Zweiten Weltkrieg entwickelte. Wie kaum ein anderer konnte er nachzeichnen, wie emanzipatorische Sprache zu einem repressiven Instrument wird, sobald ihre Vertreter an die Macht gelangen.

Für eine Linke, die aus dieser Geschichte Konsequenzen zieht, kann es nur darum gehen, jede romantische Verklärung der Bewegungen zurückzuweisen, die im Namen linker Ideen Massenverbrechen begangen haben – und gleichzeitig ihre Kritik vor allem an die real-existierenden Machtzentren zu adressieren. Und nur damit wir darüber im Klaren sind: Damit ist keine 21-jährige Student*in mit they/them-Pronomen und Hammer-und-Sichel-Gekritzel auf dem Notizbuch gemeint – zumindest nicht in absehbarer Zeit.

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