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»Ablasshandel« am Arbeitsmarkt
Die Europäische Woche zur Beschäftigung für Menschen mit Behinderung macht auf Verhältnisse in Werkstätten aufmerksam
Die Arbeitslosenzahlen unter Menschen mit Behinderung steigen. Üblicherweise hängt ihre Arbeitslosigkeitsrate vorrangig von der demografischen Entwicklung sowie den rechtlichen Rahmenbedingungen ab, wie die Bundesagentur für Arbeit (BA) mitteilt. Derzeit wirkt sich jedoch auch die allgemeine Situation am Arbeitsmarkt aus. Seit Sommer 2024 stieg die Zahl der arbeitslosen Menschen mit Schwerbehinderung immer wieder. Aktuell liegt sie bei 185 410 Personen und stieg im Vergleich zum Vormonat um fünf Prozent. Eine Schwerbehinderung haben Personen mit einem Grad der Behinderung von mindestens 55 Prozent.
Im Jahr 2024 lebten in der EU etwa 87 bis 107 Millionen Menschen mit einer Behinderung, in Deutschland waren es 2023 7,9 Millionen mit einer schweren Behinderung. Generell ist es für sie schwieriger, eine Beschäftigung zu finden. Der Europäischen Erhebung über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) zufolge lag die sogenannte Beschäftigungslücke zwischen Menschen mit und ohne Behinderung innerhalb der EU 2023 bei 22 Prozent. In Deutschland war sie etwas größer und lag bei 23 Prozent.
Das hängt zum einen mit ableistischen, also diskriminierenden, Stigmen zusammen, wonach Menschen mit Behinderungen nicht in der Lage wären, in das klassische Berufsleben einzusteigen. Dabei entstehen neun von zehn Behinderungen durch Erkrankungen oder Unfälle im Lebensverlauf. Arbeitslose Menschen mit Schwerbehinderung sind im Durchschnitt zwar älter, aber oftmals gut qualifiziert, schreibt die BA im Frühling 2025. 53 Prozent der arbeitslosen Menschen mit einer Schwerbehinderung haben demnach eine abgeschlossene Berufsausbildung, unter allen Arbeitslosen sind es nur 44 Prozent.
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Zum anderen kommt die rechtliche Lage in Deutschland zu tragen. Die Ampel-Regierung initiierte vor zwei Jahren das Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts. Es sollte mehr Menschen mit Behinderungen in reguläre Arbeit bringen, mehr Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen in Arbeit halten und eine zielgenauere Unterstützung für Menschen mit Schwerbehinderung ermöglichen. Dabei setzte die Ampel auf eine Reform der sogenannten Ausgleichsabgabe. Arbeitgeber mit mindestens 20 Arbeitsplätzen sind gesetzlich dazu verpflichtet, mindestens fünf Prozent davon an Menschen mit Schwerbehinderungen zu vergeben. Tun sie das nicht, leisten sie Strafzahlungen, die nach Erfüllungsgrad gestaffelt sind.
Laut der Sozialorganisation Aktion Mensch besetzten 2024 dennoch nur 38,5 Prozent der deutschen Unternehmen alle Pflichtarbeitsplätze für Menschen mit Schwerbehinderung. Das liegt auch daran, dass die Ausgleichsabgabe diverse Lücken hat, wie der Inklusionsbeirat der Staatlichen Koordinierungsstelle nach Artikel 33 UN-Behindertenrechtskonvention kritisiert. Sie ist beispielsweise steuerlich absetzbar, was dem Beirat zufolge die Antriebsfunktion, Menschen mit Behinderung einzustellen, untergrabe. Derlei Schlupflöcher werden im Rahmen eines Gesetzesentwurfs zum inklusiven Arbeitsmarkt zu prüfen sein, heißt es dazu auf nd-Anfrage aus dem SPD-geführten Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS).
Der Wechsel auf den regulären Arbeitsmarkt gelingt weniger als einem Prozent der Personen in Werkstätten.
Konkret führte die Ampel eine vierte Staffel der Ausgleichsabgabe ein – erhöhte diese also – und legte fest, sie nur noch für die Förderung von Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt – anstelle von Werkstätten – verwenden zu dürfen. Werkstätten sollen Beschäftigung ermöglichen und den Übergang in den regulären Arbeitsmarkt erleichtern. Mehr als 300 000 Menschen mit Behinderung sind in Deutschland in Werkstätten beschäftigt. Ein Drittel von ihnen könnte auch auf dem regulären Arbeitsmarkt beschäftigt sein. Der Wechsel auf den regulären Arbeitsmarkt gelingt aber weniger als einem Prozent der Personen in Werkstätten.
Darüber hinaus dienen sie, wie FragDenStaat bei einer Recherche mit dem inklusiven Medium andererseits und der Süddeutschen Zeitung aufzeigte, Konzernen dazu, die Ausgleichsabgabe zu umgehen. Wenn ein Unternehmen einen Auftrag an eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung vergibt, reduziert sich die Ausgleichsabgabe. So haben deutsche Arbeitgeber*innen 2022 fast 84 Millionen Euro gespart. FragDenStaat schreibt von einer Art »Ablasshandel«.
Dennoch hat die aktuelle Regierung aus Union und SPD nicht nur im Koalitionsvertrag festgeschrieben, die Aufnahme von Menschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt fördern zu wollen, sondern auch, die nachrangige Förderung von Werkstätten und Wohnheimen für Werkstattbeschäftigte aus der Ausgleichsabgabe wieder gesetzlich ermöglichen zu wollen.
Auf nd-Nachfrage zu diesem Richtungswechsel teilt das BMAS mit: »Die Prüfung der Umsetzung der nachrangigen Förderung von Werkstätten und Wohnheimen für Werkstattbeschäftigte aus der Ausgleichsabgabe erfolgt wie die Prüfung aller weiteren im Koalitionsvertrag im Bereich des inklusiven Arbeitsmarkts und der Weiterentwicklung der Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) aufgeführten Vorhaben im Rahmen der Erarbeitung eines entsprechenden Gesetzentwurfs.«
Damit mehr Menschen künftig auf den regulären Arbeitsmarkt wechseln, habe die BA Mitte November ein Konzept veröffentlicht, das eine stärkere Orientierung der Leistungen im Eingangsverfahren und Berufsbildungsbereich für Menschen mit Behinderungen am allgemeinen Arbeitsmarkt vorsieht.
Die europäische Woche zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderung für 2025 wird in Deutschland unter anderem durch eine digitale Aktionswoche der Bundesagentur für Arbeit vom 26. November bis 3. Dezember abgedeckt.
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