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Sahel: Dschihadisten gewinnen die Oberhand
Professor Alex Thurston sieht die Militärjuntas in Mali, Burkina Faso und Niger in der Bredouille
Die öffentliche Hinrichtung der TikTokerin Mariame Cissé am 8. November im Norden Malis war äußerst schockierend. Warum wurde die junge Frau von Dschihadisten entführt und getötet?
Die Hauptbegründung in Medienberichten und von örtlichen Zeugen lautet, dass sie wegen ihrer Beiträge pro Malis Militär getötet wurde – und, wie einige Berichte hinzufügen, weil die Dschihadisten sie beschuldigten, Informationen an das Militär weiterzugeben. Nachdem ich selbst viele ihrer jüngsten Beiträge angesehen habe, vermute ich, dass die Dschihadisten sie auch wegen ihrer allgemeinen Popularität und der Lebensweise, die sie zeigte, ins Visier nahmen – ein Leben voller Spaß, Tanz, Mode, Partys und lokalem Stolz. Diese Lebensweise steht, gelinde gesagt, in starkem Widerspruch zu dem, was die Dschihadisten von malischen Frauen verlangen.
Alex Thurston ist außerordentlicher Professor an der School of Public and International Affairs der University of Cincinnati. Sein zuletzt erschienenes Buch trägt den Titel Jihadists of North Africa and the Sahel (Cambridge, 2020). Er veröffentlicht regelmäßig Beiträge in seinem Newsletter Sawahil.
Welche Ziele verfolgen die JNIM-Dschihadisten, der Sahara-Zweig von Al-Qaida, im Sahel? Geht es ihnen um den Sturz der Regierung in Bamako, oder steckt mehr dahinter?
Ihre Ziele sind meiner Ansicht nach recht undurchsichtig. Ihre Propaganda betont seit Langem die Vertreibung ausländischer Truppen, den Sturz feindlicher Regierungen und die Errichtung einer von ihnen definierten »reinen islamischen Gesellschaft«. Doch ich vermute, dass es unter den Anführern und Kämpfern eine Mischung von Motivationen gibt – einige wollen Profit und Macht, andere Rache für Übergriffe der Sicherheitskräfte, wieder andere verfolgen politische Ambitionen, manche sind aus Zwang oder aufgrund der Umstände beigetreten, und viele sind vermutlich wirklich von der Ideologie überzeugt. Klar ist, dass einige Anführer und Kämpfer expandieren und neue Fronten eröffnen wollen. Sie arbeiten intensiv daran, die malische (und burkinische) Armee zurückzudrängen – doch was ihr letztliches Ziel ist, kann ich nicht sagen. Vielleicht wissen sie es selbst nicht; der Aufstand hat schließlich eine eigene Dynamik entwickelt.
Die Militärjuntas in Mali, Burkina Faso und Niger wirken hilflos gegenüber den Dschihadisten. Ist der »Souveränismus«, den man in anderen Teilen Westafrikas, etwa in Senegal, beobachtet, nur eine leere Hülle?
Ja, ich denke, der »Souveränismus« der Sahel-Juntas hat sich bislang eher als Prahlerei denn als Substanz erwiesen. Die Ausweisung der französischen Truppen war in gewisser Hinsicht eine Wiedererlangung von Souveränität, aber echte wirtschaftliche Unabhängigkeit bleibt ein fernes Ziel. Im Senegal stehen die neuen Machthaber zwischen verschiedenen Zwängen und Hindernissen, etwa der Staatsschuldenkrise und dem Internationalen Währungsfonds. Vielleicht unterscheiden sich Präsident Diomaye Faye und Premierminister Ousmane Sonko auch deutlich darin, wie sie ihr Mandat und den Weg zu größerer Souveränität und Entwicklung sehen.
Halten Sie es für möglich, dass die Dschihadisten Bamako einnehmen könnten?
Ich glaube, ihnen fehlt die nötige Mannstärke, um Bamako zu erobern und zu halten. Einige Schätzungen gehen von etwa 6000 Kämpfern aus – zu wenig, um die malische Armee vollständig zu besiegen und anschließend eine Stadt zu kontrollieren, deren Bevölkerung oft auf über drei Millionen geschätzt wird. Zum Vergleich: Die Seleka-Rebellenkoalition, die 2013 die Hauptstadt Bangui in der Zentralafrikanischen Republik einnahm, soll über 20 000 Kämpfer verfügt haben. Daher könnte JNIM zögern, direkt die Kontrolle anzustreben, und lieber abwarten, bis ihre derzeitige Treibstoffblockade größere Wirkung zeigt.
Andererseits kann sich der Zusammenbruch eines Staates in der Endphase sehr schnell beschleunigen: Wenn die Moral des Militärs zusammenbricht, hohe Beamte in Panik fliehen oder die Zivilbevölkerung unruhig wird, könnten sich die Bedingungen so verändern, dass JNIM beinahe kampflos in die Stadt einmarschieren könnte. Dann jedoch stünde die Bewegung vor einer völlig neuen Reihe von Fragen und Herausforderungen.
Es heißt oft, die Dschihadisten stellten einen Aufstand der Peul (Fulani) dar. Stimmt das?
Nein, ich halte sie für wirklich multiethnisch. Sicherlich gibt es eine starke Peul-Präsenz auf Führungs- und Kämpferebene, aber ebenso Tuareg, Araber und – je weiter sie nach Süden vordringen – auch viele andere Ethnien. In ihrer Propaganda über den großen Angriff auf Bamako im September 2024 betonte JNIM ausdrücklich, dass einer ihrer beiden Frontkommandeure Bambara und der andere Peul war. Außerdem gibt es zahlreiche Peul-Opfer – sowohl durch den Aufstand selbst als auch durch Sicherheitskräfte und lokale Milizen, die manchmal die Peul pauschal ins Visier nehmen.
Angesichts der Lage im Sahel, die sich zu einem zweiten Afghanistan entwickeln könnte – gibt es eine Rolle für die EU oder sogar für die ehemalige Kolonialmacht Frankreich, die 2013 die Dschihadisten zurückdrängen konnte?
Wäre ich Berater der EU oder Frankreichs, würde ich ihnen raten, sich diplomatisch und militärisch von diesem Konflikt fernzuhalten. Die europäischen und französischen Einsätze in Mali – ob Terrorismusbekämpfung, Ausbildung oder Regierungsaufbau – haben in den 2010er Jahren schlicht nicht funktioniert, abgesehen vom anfänglichen Erfolg Frankreichs bei der Rückeroberung 2013.
Ich denke, alle Großmächte sollten humanitäre Hilfe leisten, einschließlich der Bereitstellung von Treibstoff, um die Blockade zu überstehen. Doch darüber hinaus wäre ein abwartender Ansatz gegenüber dem Konflikt insgesamt ratsam.
Die Regierung in Bamako bleibt Frankreich gegenüber feindlich eingestellt, und selbst wenn das nicht der Fall wäre, würde eine künstliche Unterstützung riskieren, die Fehler Afghanistans zu wiederholen. Sollte die Regierung tatsächlich an die Dschihadisten fallen, wäre das ein düsteres Szenario – aber besser wäre es, darauf erst zu reagieren, wenn es tatsächlich eintritt, statt eine ohnehin repressive Regierung künstlich am Leben zu erhalten.
Unser Autor ist Büroleiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung Westafrika in Dakar.
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