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  • Buch »Die verdrängte Pandemie«

Schlechte Besserung

Corona war vor allem eine soziale Katastrophe – und ist es immer noch. Über den Pandemierevisionismus liegt nun ein Sammelband vor

  • Kim Posster
  • Lesedauer: 8 Min.
Der Elefant im Raum hat ein gutes Gedächtnis: Die Nachwirkungen der Pandemie sind ebenso präsent wie die Herausforderungen kommender Katastrophen.
Der Elefant im Raum hat ein gutes Gedächtnis: Die Nachwirkungen der Pandemie sind ebenso präsent wie die Herausforderungen kommender Katastrophen.

Bekanntermaßen soll die Linke aus ihren Niederlagen lernen. Doch was ist, wenn sich die Linke an gar keine Niederlage erinnern kann? So ist es im Falle der Corona-Pandemie, die sich vor allem wegen der Politik der Industrienationen zum tödlichsten globalen Ereignis seit dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat. Doch auch im progressiven Lager will man die Geschichte der Seuche am liebsten vergessen. Das Ende jeder kollektiven Schutzmaßnahme und der effektive gesellschaftliche Ausschluss aller, die sich konsequent schützen wollen beziehungsweise müssen, wurde auch hier quasi-widerstandslos »normalisiert«.

Der neu erschienene Sammelband »Die verdrängte Pandemie« tritt in eigenen Worten an, sich diesem »Terror der Normalität« entgegenzustellen und schafft es so, »Corona« als die soziale Katastrophe zu behandeln, die es war und aller Verleugnung zum Trotz auch immer noch ist. Die beiden Herausgeber, Frédéric Valin und Paul Schuberth, versammeln auf 296 Seiten »Linke Stimmen gegen den Pandemierevisionismus«. Ideologiekritik, Feminismus und marxistische Staatstheorie sind dabei genauso vertreten wie Perspektiven von Evolutionsbiologie, Medizin und schließlich den postviral Erkrankten selbst. Was sie alle eint, ist die humanistische Weigerung, das Leid und die Leidenden zu vergessen und das materialistische Geschichtsbewusstsein, dass es anders hätte sein können und heute nicht so weitergehen darf.

Work-Death-Balance

Es ist symptomatisch für den Gegenstand des Buches, wie viel grundsätzliche Aufklärung von Fehlinformationen und Propaganda der Band leisten muss, bevor es überhaupt in die nähere Analyse gehen kann. Denn ja: Covid-19 tötet immer noch Menschen und jede Infektion birgt das Risiko auf irreversible Schäden und Spätfolgen. Diese können chronisch werden und sind nach aktuellem medizinischen Stand unheilbar. Ja, (jährliche) Impfungen wirken stark. Nein, sie können nichts davon komplett verhindern und in extrem seltenen Fällen sogar selbst Spätfolgen auslösen (»PostVac«). Ja, asymptomatische Ansteckungen bleiben ein Problem. Nein, ein leichter oder sogar unbemerkter Verlauf bedeutet nicht, dass kein Schaden entstanden ist. Wie konnte es dazu kommen, dass diese simplen Fakten vom »Leben mit dem Virus« fast niemand (mehr) zu wissen scheint und noch viel weniger danach gehandelt wird?

Im Sammelband wird Corona als gesellschaftlich koproduzierte Naturkatastrophe entwickelt: Der bürgerliche Staat war mit dem Widerspruch konfrontiert, die Gesundheit seiner Bevölkerung als Verwertungsgrundlage abzusichern und gleichzeitig möglichst wenig Beschränkungen für das Kapital umzusetzen. Deshalb reduzierte sich der Maßstab des staatlichen Infektionsschutzes schnell nur noch auf Tote und die Überlastung des Gesundheitssystems. Diese »Work-Death-Balance« war die Basis von Absurditäten, wie den harten, stellenweise übertriebenen Einschränkungen der »Freizeit«, während die Lohnarbeit möglichst schnell wieder geöffnet und gelockert wurde. Auch der inkonsequente Schlingerkurs aus zu späten Schließungen, überhasteten Maßnahmen und zu frühen Öffnungen basiert auf diesem Pendeln. So wurde weder guter Infektionsschutz noch eine relativ schnelle und sichere Rückkehr zum Alltag gewährleistet.

Es ist mit das größte Verdienst des Sammelbandes, dass er den Opfern der Pandemie eine kritisch-analytische Stimme gibt.

Seitdem durch Impfung und Durchseuchung ein Immunitätslevel erreicht ist, das weiteres Massensterben verhindert, hat sich der Staat des mühsamen Abwägens entledigt und den Infektionsschutz ganz aufgegeben. Was real fast jährliche (Mehrfach-)Infektionen bedeutet, wurde als »Rückkehr zur Normalität« propagiert. So hat sich ein »ideologisch-materielles Perpetuum Mobile« der Verdrängung durchgesetzt, wie Ko-Herausgeber Schuberth es nennt: Dass niemand mehr etwas macht, fungiert als praktischer Beweis dafür, dass es kein Problem mehr geben soll. Sein Fazit: »Das Beruhigende und dadurch Beunruhigende daran: Damit gibt es zum ersten Mal seit Langem so etwas wie Kohärenz in der Pandemiepolitik.«

»Aus Corona lernen«

Über mehrere Beiträge zeigt der Sammelband immer wieder, was man aus der Entstehung und Verbreitung von Covid-19 hätte lernen können. Zum Beispiel wie Klimawandel und nicht-regenerative Monopol-Agrarwirtschaft die Verbreitung von Zoonosen, also Wildtier-Viren, die auf Menschen überspringen, befördern. Ändert sich nichts, werden Pandemien immer wahrscheinlicher und in kürzerem zeitlichem Abstand auftreten. Auf dem amerikanischen Kontinent zum Beispiel sind im letzten Jahr bereits Menschen an unterschiedlichen Strängen der Vogelgrippe verstorben. Nur wenige ungünstige Mutationen trennen uns noch vor Übertragungen von Mensch zu Mensch und damit wahrscheinlich der nächsten globalen Seuche.

Auch die Entdeckung der Bedeutung von Aerosolen für das Infektionsgeschehen hat enormes Potenzial: Die starken Cholera-Ausbrüche des 19. Jahrhunderts haben schließlich die moderne Wasseraufbereitung und -versorgung etabliert. Es wäre naheliegend gewesen, dass die Erfahrung mit Covid-19 ebenso eine allgemeine Verbesserung der öffentlichen Gesundheit zeitigen würde. Passiert ist das Gegenteil. Wenn heute überhaupt davon gesprochen wird, dass man »aus Corona lernen« müsse, ist damit meist gemeint, dass noch zu viel getan, nicht früh genug durchseucht, zu sehr auf Vulnerable geachtet wurde.

Die andere historische Parallele, die im Buch angebracht wird, ist deshalb die Spanische Grippe. Diese hatte als Teil der Vorgeschichte des Faschismus Massensterben, Eugenik und Sozialdarwinismus mit-normalisiert. Corona zeigt sich hier als eigentümliche Farce zu dieser Tragödie. Denn einerseits wurden Eugenik, Sozialdarwinismus und Ableismus durch die Covid-Pandemie ebenfalls entfesselt. In Deutschland steht etwa der Virologe und CDU-Politiker Hendrick Streeck wie kein Zweiter für die Kontinuität der seit 2020 prominenteren Frage danach, ob wir uns Schutz und Versorgung von Alten und Kranken »noch leisten können«. Doch andererseits hat sich mit der allgemeinen Verdrängung des Virus auch hier etwas verändert: Eine latente Dauerdurchseuchung, die alle, auch die vermeintlich Starken und Gesunden immer wieder (chronisch) schädigt, ist mit klassisch ideologischen Zielen, wie »Aufartung« oder »Aussieben« unvereinbar. Ko-Herausgeber Valin spricht deshalb von »Neo-Eugenik«. Die Kranken und Vulnerablen werden hier nicht markiert und verfolgt, sondern ignoriert und verleugnet, damit alles so weitergehen kann, als wäre nichts passiert.

Sterben statt Hilfe

Dass auch das äußerste Brutalität bedeutet, zeigt der Umgang mit den maßgeblichen Opfern der Pandemie. Es ist mit das größte Verdienst des Sammelbandes, dass er ihnen eine kritisch-analytische Stimme gibt. Ein Beitrag sammelt zum Beispiel Fallgeschichten von Long- beziehungsweise Post-Covid-Betroffenen, die durch die Krankheit meist ganz oder teilweise aus dem Leben gerissen werden. Noch eindrücklicher ist der Artikel der selbst betroffenen Philosophin Dania Alasti über das post-virale Syndrom ME/CFS, eine aktuell unheilbare Multi-Systemerkrankung mit oft extrem niedriger Lebensqualität, deren Verbreitung sich durch Corona mindestens verdoppelt hat. Besonders belastend: Beide Gruppen berichten, dass Ärzt*innen sie überwiegend nicht ernst nehmen, besonders, weil viele Betroffene Frauen sind, wie oft bei chronischen Krankheiten. Fehlbehandlungen, Stigmatisierung und versagte Ansprüche auf Sozialleistungen sind die Folge. Die Forschungs- und Versorgungslage ist ebenfalls katastrophal.

Gerade ME/CFS-Erkrankte treibt dieser Zustand immer wieder in den Tod: durch sukzessive Verschlechterungen ihrer Krankheit, noch häufiger aber durch Suizid als einzig verbliebenem Ausweg. Allgemeine spätkapitalistische Individualisierung, die jedes Scheitern am Leistungsdruck zum Mindset-Problem erklärt, die Neo-Eugenik des Pandemierevisionismus und die (sexistische) Tradition der medizinischen Psychologisierung von chronischer Krankheit, bilden den Dreiklang dieser systematischen unterlassenen Hilfeleistung. Die global steigende Förderung von Sterbehilfe in den letzten Jahren als »Mittel« für Menschen mit Behinderung oder chronischer Krankheit, die sonst keine Unterstützung kriegen, deutet auf einen grausamen Trend hin.

Erinnern heißt kämpfen

Der Band sagt dem Vergessen den Kampf an und ruft damit implizit, aber auch explizit dazu auf, sich solidarisch gegen die Verhältnisse zu stellen, die die Pandemie hervorgebracht und verdrängt haben. Dabei scheint immer wieder in der und durch die Kritik auf, wie es anders und besser sein könnte. Im Interview mit dem Evolutionsepidemiologen Rob Wallace wird zum Beispiel eine kollektive Wissenschaft von unten vorgestellt, die sich in der Konfrontation mit Impfgegnerschaft und anderer Querdenkerei nicht in Staatsgläubigkeit und technokratisches »Trust the science« flüchtet. Im Artikel des Mitherausgebers Valin wird ausgelotet, wie Arbeitskämpfe in Medizin und Pflege gegen die menschenfeindliche Logik der Ökonomisierung möglich sind, die sich gleichzeitig mit ihrer Klientel solidarisieren, statt dieses weiter mit zu stigmatisieren. Beim freien Autor Christian Bunke hingegen werden ganz konkrete Handlungsmöglichkeiten aufgelistet, um die bereits Erkrankten zu unterstützen. Von Hygienekonzepten bei der Organisation von Veranstaltungen zu Aktivismus gegen Arbeitgeber, Ämter und stigmatisierender Forschung und Medizin.

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Gegen die schlechte Besserung des Lebens mit dem Virus erinnert der marxistische Kritiker Maximilian Hauer daran, dass der Bruch mit der Normalität am Anfang der Pandemie auch utopisches Potenzial freigesetzt hat. Zum Beispiel als Lohnabhängige Infektionsschutz gegen das Kapital erstritten und wie im Fall von etwa General Electric in den USA sogar eigenmächtig die Produktion auf Gesundheitsartikel umstellten. Oder dort, wo lokale Anwohner*innen in Marseille eine geschlossene McDonalds-Filiale übernahmen, um Bedürftige abseits der privatisierten Carearbeit von, meistens, Frauen zu versorgen. Er schreibt hierzu, »die kollektiven Überlebensstrategien erhielten möglicherweise die Keime einer neuen Welt, da sie Schauplätze direkter Demokratie, gesellschaftlicher Macht und kollektiver Bedürfnisbefriedigung schufen«.

Es ist vor allem diese praktische Vorstellung von besseren, gar befreiten Verhältnissen, die vom aktuellen Pandemierevisionismus vergessen werden muss. Wofür er alle (potenziell) Kranken und Toten noch einmal opfert. Eine Linke, die selbst diesem Vergessen anheimgefallen ist, wird an diesem trostlosen Zustand nichts ändern. Deshalb ist zu wünschen, dass gerade hier das Buch viel und breit gelesen wird. Denn: Erinnern heißt kämpfen.

Frédéric Valin und Paul Schuberth (Hrsg.): Die verdrängte Pandemie. Linke Stimmen gegen den Pandemierevisionismus. Unrast, 296 S., br., 19,80 €.
Kim Posster hat durch Covid-19 moderates ME/CFS entwickelt und lebt seitdem hauptsächlich hausgebunden. Er klagt aktuell gegen das Sozialamt, das seine Einschränkungen als psychosomatisch verwirft.

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