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Corona-Pandemie: Der lange Schatten der Leugnung
Die Pandemieverharmlosung reiht sich in eine Tradition bürgerlicher Wirklichkeitsverweigerung ein – und ist Klassenkampf von oben
In der deutschsprachigen Öffentlichkeit hat die Covid-19-Pandemie einem Phänomen endgültig zum Durchbruch verholfen, das bis dato eher ein Nischendasein gefristet hatte: die Anfechtung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse als politischen Kristallisationspunkt. Was mit dem Einbruch des Virus im Jahr 2020 als Raunen über die vermeintliche Unterdrückung alternativer Fakten begann, formierte sich bald zu einer Protestbewegung gegen Pandemieschutz und wandelte sich nach dem Abklingen der tödlichsten Infektionswellen und der Aufhebung aller Maßnahmen im Frühjahr 2023 zu einem Kampf um das historische Narrativ.
Zwar wandten sich die meisten Zeitgenoss*innen nach drei Jahren Ausnahmezustand erschöpft von dem Thema Corona ab – wenn sie das Glück hatten, nicht an Long Covid erkrankt zu sein. Gleichzeitig wurden jedoch auch immer wieder Rufe nach einer »kritischen Aufarbeitung der Pandemie« laut, deren Ergebnis freilich schon von Beginn an feststand: Das Virus sei letztlich harmlos, die Maßnahmen zur Eindämmung hingegen nicht nur völlig unverhältnismäßig, sondern die eigentliche Quelle allen Leids in der Pandemie gewesen.
Um diesen Pandemierevisionismus vollends zu begreifen, muss die Wahlverwandtschaft der Leugnung im Pandemiekontext mit älteren Formen in den Blick genommen werden. Einen hilfreichen Ansatzpunkt für die kritische Aufarbeitung dieser Geschichte bietet die 2011 erschienene Monografie »Merchants of Doubt« der Wissenschaftshistoriker*innen Naomi Oreskes und Erik M. Conway.
Wissenschaft gegen sich selbst wenden
Die Studie nimmt die Leugnung des menschengemachten Klimawandels zum Anlass für eine historische Tiefenbohrung, die in eine Urszene im Jahre 1953 führt. Neue Indizien für die krebserzeugende Wirkung von Zigarettenrauch aus der empirischen Forschung erhielten damals ein starkes mediales Echo. Die größten US-amerikanischen Tabakkonzerne gerieten in Panik, fürchteten um ihren Absatz und beauftragen eine PR-Agentur mit der Erarbeitung einer öffentlichkeitswirksamen Antwort, die die unliebsamen Forschungsergebnisse unschädlich machen sollte. Die von den PR-Profis ausgearbeitete »Tabakstrategie« wurde ab den 70er Jahren zur Blaupause für eine ganze Reihe ähnlicher Auseinandersetzungen.
Im Kern der Strategie stand der Aufbau eigener Institutionen für eine langfristige Wissenschaftsförderung im Sinne der Tabakindustrie. In den darauffolgenden Jahrzehnten wurden gewaltige Summen in die Produktion von Daten, Deutungsmustern und Personalien investiert, auf die sich die Konzerne stützen konnten. Der Zweifel am etablierten Kenntnisstand diente hier nicht als Antrieb dafür, zu einem reichhaltigeren Verständnis der Wirklichkeit zu gelangen. Ganz im Gegenteil hieß es in einer internen Mitteilung eines beteiligten Konzerns 1969 unverhohlen: »Der Zweifel ist unser Produkt«. Seit der Neuzeit galt es als vornehmster Zweck der Wissenschaft, die Subjekte durch fundierte Welterkenntnis zu orientieren und ihre autonome Handlungsmacht zu erweitern. Hier erzeugte die von der Industrie inszenierte Wissenschaftssimulation umgekehrt ein spektakuläres Bild überwältigender Komplexität, um im Laienpublikum Verunsicherung und Konfusion zu stiften.
Was mit der Leugnung geschützt werden soll, ist die absolute Verfügungsgewalt über das kapitalistische Privateigentum, die dessen Besitzer »Freiheit« nennen.
Im Unterschied zu älteren Angriffen auf die Naturwissenschaften – etwa auf Charles Darwins »Über die Entstehung der Arten« – werden nun nicht die Autorität der Bibel oder die guten Sitten ins Feld geführt, da dies in einem scheinbar aufgeklärten Zeitalter kaum mehr verfangen würde. Oreskes und Conway vergleichen das neue Vorgehen treffend mit der japanischen Kampfkunst Jiu Jitsu, bei der die Kraft des Gegners geschickt gegen ihn selbst umgeleitet wird. Wissenschaftliche Tugenden wie Vorsicht, die Infragestellungen von Dogmen oder das Eingestehen des vorläufigen und unvollkommenen Charakters von Erkenntnissen werden genutzt, um Außenstehenden den Anschein absoluter Unsicherheit zu vermitteln.
Konservative Verwirrungstaktik
Dieser kommunikative Mechanismus wurde in den vergangenen Jahren unter dem Begriff »Alternative Fakten« diskutiert. Der Soziologe Nils C. Kumkar zeigte in seinem gleichnamigen Buch, dass »der Gehalt des jeweiligen alternativen Fakts bis zu einem gewissen Grad beliebig« ist. Häufig werde eine ganze Flut unterschiedlicher Behauptungen aufgestellt, die »untereinander (…) völlig inkohärent« seien. Alternative Fakten bezögen sich auf die etablierte Expertise somit nicht im Modus der »bestimmten Negation«, die eine vorliegende Entscheidungsgrundlage durch eine zutreffendere ersetzen möchte, sondern im Modus der »unbestimmten Negation«, die jegliche Entscheidungsgrundlage zu unterminieren trachte.
Genau darin liegt die praktische Pointe der ganzen Veranstaltung: Die Zweifelproduktion soll den Anschein erzeugen, es sei noch zu früh, um aus dem Debattieren ins politische Handeln überzugehen. An diesem Wunsch nach Verschleppung wird der konservative Grundzug der skeptischen Bewusstseinsform sichtbar. Auch wenn sogenannte alternative Fakten häufig mit einem subversiven Querdenkergestus vorgebracht werden, verstärken sie unweigerlich die Beharrungskräfte des Bestehenden. Wer alles beim Alten belassen möchte, sollte ein Klima der Ungewissheit fördern, in dem das untätige Abwarten auf eine nie eintretende Klärung als klügste Handlungsoption erscheint.
Dieser Mechanismus lässt sich in der von Oreskes und Conway nachvollzogenen langen Geschichte des Leugnens immer wieder beobachten. Nachdem es die Tabakindustrie vorgemacht hatte, wurden mit ähnlichen argumentativen Strategien unter anderem die Gefahren durch sauren Regen, das Ozonloch und den menschengemachten Klimawandel in Zweifel gezogen. Eine revisionistische Kampagne griff in den 2000er Jahren das 35 Jahre zuvor erfolgte Verbot des umweltschädlichen und krebserzeugenden Pestizids DDT in den USA mit dem vertrauten Argument an, der politische Eingriff habe weitaus größeren Schaden als das ursprüngliche Problem verursacht. Natürlich sollte aus der rückblickenden Diskreditierung der Umweltgesetzgebung ein entsprechender Laissez-faire-Ansatz für zukünftige ökologische Krisen abgeleitet werden.
Freiheitskampf der Besitzenden
Interessanter als der – auf der Hand liegende – unmittelbare ökonomische Nutzen für die jeweils involvierten Industriezweige ist die Frage, warum verschiedene konservative und libertäre Thinktanks mit einer weitaus breiteren politischen Agenda seit Jahrzehnten maßgebliche Akteure auf dem Feld der Leugnung sind. Das allgemeine Moment wird jedoch in der Zusammenschau der verschiedenen Schauplätze kenntlich, an denen stets das Verhältnis von privatem Nutzen und gesellschaftlichen Lasten verhandelt wird. Denn geleugnet werden naturwissenschaftliche Erkenntnisse natürlich nicht schlechthin – sie sind vielmehr höchst willkommen, wenn sie die eigenen Unternehmungen effizienter machen. Geleugnet wird der wissenschaftliche Nachweis, dass Produkte und Verfahrensweisen, die für einige Besitzende lukrativ sind, schädliche Folgen für Natur und Gemeinwesen zeitigen. Was mit der Leugnung geschützt werden soll, ist die absolute Verfügungsgewalt über das kapitalistische Privateigentum, die dessen Besitzer »Freiheit« nennen.
Die in der Leugnung engagierten marktfundamentalistischen Netzwerke reichen bis in die Zeit des Kalten Krieges zurück und richteten sich damals vor allem gegen die »rote Gefahr«. Doch während sich die Arbeiterbewegung im Westen seit Mitte der 70er Jahre in Rückzugsgefechten befand und der staatssozialistische Block Anfang der 90er Jahre implodierte, erlebte das grüne Umweltbewusstsein in diesen Jahren einen Aufschwung und wurde von Libertären als neuer Hauptgegner identifiziert.
Die Libertären haben früh begriffen, dass die Ökologie mit ihrer Betonung des Systemcharakters der Erde und der darin waltenden universellen stofflichen Wechselwirkung eine Gefahr für den kapitalistischen Besitzindividualismus darstellt. Denn sind die komplexen, nicht-intendierten und de facto zunehmend globalen ökologischen Auswirkungen privatwirtschaftlicher Handlungen erst einmal anerkannt, so drängt sich die Frage nach der Regulation – oder sogar: Planung und Steuerung – des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur geradezu auf. In dieser Perspektive erscheint das ökologische Bewusstsein als Trojanisches Pferd, um gesellschaftliche Maßgaben abseits des individuellen Profitinteresses in die Wirtschaft einzuführen und so die exklusive Verfügungsgewalt der Eigentümerklasse auszuhöhlen.
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Doch während sich in der Umwelt- und Klimabewegung bis heute keine sozialistische Hegemonie herausgebildet hat, treffen sich diesbezügliche libertäre Befürchtungen bemerkenswerterweise mit einer Beobachtung, die Karl Marx 1868 anlässlich seiner Lektüre des Agrarökonomen Carl Fraas notierte. Dieser hatte sich intensiv mit den verheerenden sozialökologischen Folgen des nichtregulierten Holzschlags in der Antike beschäftigt, die dort zur Wüstenbildung führte. Marx kommentiert: »Das Fazit ist, daß die Kultur – wenn naturwüchsig vorschreitend und nicht bewußt beherrscht (dazu kommt er natürlich als Bürger nicht) – Wüsten hinter sich zurückläßt, Persien, Mesopotamien etc., Griechenland. Also auch wieder sozialistische Tendenz unbewußt!«
Die Covid-19-Pandemie war in dieser Hinsicht brisant, weil die bewussten Eingriffe im Namen der öffentlichen Gesundheit hier nicht nur einzelne Stoffgruppen wie fossile Brennstoffe oder FCKW-Gase betrafen, sondern mit der Unterscheidung in systemrelevante und temporär entbehrliche Branchen gesamtwirtschaftlichen Maßstab gewannen – auch wenn das bürgerliche Notstandsmanagement aller libertären Hysterie zum Trotz nie eine dauerhafte Infragestellung des Privateigentums beabsichtigte und sich tunlichst beeilte, den Status quo ante wiederherzustellen.
Maximilian Hauer ist Autor des Essaybands »Seuchenjahre« (2023) über die Covid-19-Pandemie sowie Ko-Autor von »Klima und Kapitalismus« (2025). Ein Beitrag von ihm erschien zudem im Sammelband »Die verdrängte Pandemie«.
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