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  • Die Nerven: »Live im Elfenbeinturm«

»Warum hab ich Angst, aber du nicht?«

Richtige Musik im Falschen: Die Nerven haben ein sehr gutes Livealbum eingespielt

  • Benjamin Moldenhauer
  • Lesedauer: 3 Min.
Sie sind der Erde gleich, singen Die Nerven, hier 2023 bei den Flüssen Leine und Ihme, die in Hannover zusammenfließen und denen das »Fährmannsfest« gewidmet ist.
Sie sind der Erde gleich, singen Die Nerven, hier 2023 bei den Flüssen Leine und Ihme, die in Hannover zusammenfließen und denen das »Fährmannsfest« gewidmet ist.

Die Nerven haben sich einst selbst die »letzte Rockband Europas« genannt. Das war einerseits tongue in cheek, andererseits aber wohl auch eins zu eins größenwahnsinnig. Jedenfalls spielten Die Nerven auf den Konzerten ihrer letzten Tour ihre Stücke so, als würden sie selbst daran glauben. Was deswegen so gut funktioniert hat, weil die Songtexte gerne von Fragilität erzählen und um Selbstzweifel, Anxiety und Entfremdung kreisen. Während die Musik Präsenz und Stärke ohne Breitbeinigkeit suggeriert.

Denn Die Nerven kommen vom Noise- und nicht vom Pimmelrock. Auf den Konzerten, die für das Doppelalbum »Live im Elfenbeinturm« mitgeschnitten wurden, konnte man eine Band hören, die bis ins Letzte aufeinander eingespielt war. Drei Musiker – ein Körper, sozusagen. Das hat man in dieser Zielgenauigkeit jenseits von Jazzmusik oder den Hochzeiten der New Yorker Noiseband Helmet selten. Zumal Helmet noch mal ganz anders klingt.

Plattenbau

Das Album der Woche. Weitere Texte unter dasnd.de/plattenbau

Die Stücke auf »Live im Elfenbeinturm« kommen überwiegend von den letzten drei Nerven-Platten. Die Studioversionen werden noch ein paar Gänge zackiger gespielt. Oder sie werden, wie in »Der Erde gleich«, mit einer langen Jam zerdehnt. Das Stück ist dann auch so etwas wie das Zentrum des Albums. Ein Liebeslied, dessen Text nicht von irgendwelchen romantischen Vorstellungen oder Fantasien ausgeht, sondern von Körperzuständen: »Wenn wir uns berühren/ Ich kann die Erschütterung spüren/ Wenn wir uns berühren/ Ich bin der Erde gleich«. Am Ende dann tatsächlich mal ein Happy End: »Wir sind der Erde gleich«.

Die Nerven fabrizieren ein intensives Gemenge aus Unbehagen und Depressivität bei gleichzeitigem Um-sich-Schlagen und Schreien. Man hört diese Musik – am besten vor der Bühne, aber gerne auch so, zu Hause und laut – und kommt zwar nicht befreit, aber doch ganz glücklich zurück in den doofen Terror des Alltags. Den Wunsch nimmt man mit: Dass das alles jetzt bald mal aufhört mit der Entfremdung und den Unsicherheiten. »Warum hab ich Angst, aber du nicht?«, singt Rieger in »Das Glas zerbricht« (im Refrain ergänzt um »und ich gleich mit«).

Ein anderes unvergessliches Lied: »Frei« vom sehr, sehr guten Album »Fake« von 2018, das in der Live-Version noch mal zwei Stufen dringlicher wirkt. Eine Zeile wie »Lass alles los/ gib alles frei« kann man überzeugend (so etwas wie »authentisch« ist nach wie vor egal) nur singen, wenn man in diesem Moment irgendwie an so etwas wie Punk und Katharsis glaubt, im Wissen darum, dass die Musik am Ende auch nichts ändert – oder diesen Glauben zumindest routiniert performen kann. Aber dieses Wissen wäre dann vor dem Konzert da und danach, nicht währenddessen.

Die Musik der Nerven lebt von der Anspannung, alles rauslassen zu wollen, und dem Wissen, dass auch Pop und Postpunk einen nicht retten werden, beim gleichzeitigen, vielleicht etwas ramponierten, Glauben an die richtige Musik im Falschen.

Die Nerven: »Live im Elfenbeinturm« (333/Broken Silence)

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