Marxisten in Russland: Ein Urteil wie im Stalinismus

In Russland wurden Marxisten verurteilt, die angeblich die Sowjetunion wiedererrichten wollten

  • Varvara Kolotilova
  • Lesedauer: 4 Min.
»Faschisten«, skandierten die Marxisten mehrfach nach dem Schuldspruch in Richtung der Richter.
»Faschisten«, skandierten die Marxisten mehrfach nach dem Schuldspruch in Richtung der Richter.

Zwischen 16 und 22 Jahren Haft für die Teilnahme an einem marxistischen Lesekreis: Ein derart maßloses Urteil würde gut in die Zeit der stalinistischen Säuberungen in den 1930er Jahren passen. Doch dieser konkrete Fall ist kein historischer, sondern spielt sich im Hier und Jetzt ab. Ein Militärgericht im russischen Jekaterinburg blieb mit seinem am Dienstag verhängten Strafmaß gegen fünf Männer nur wenig hinter der Forderung der Staatsanwaltschaft zurück, die auf bis zu 24 Jahre Freiheitsentzug plädiert hatte. Der Vorwurf lautete »gewaltsame Machtübernahme« ohne Wahlen und »Errichtung einer kommunistischen Ordnung« auf Grundlage einer »sowjetischen Verfassung«.

Kaum war das Urteil gesprochen, schrien die in einen Glaskasten gesperrten Angeklagten lauthals »Faschisten!«. Keiner von ihnen hatte während des zwei Jahre andauernden Gerichtsprozesses seine Schuld eingestanden. Stattdessen berichteten sie alle von Folter und Misshandlungen nach ihrer Festnahme. Konstruktion und Beweisführung der Anklage erinnern stark an den sogenannten Netzwerk-Fall. 2020 waren Anarchisten aus Pensa und St. Petersburg wegen Terrorismus zu hohen Haftstrafen verurteilt worden.

Es begann mit Marx` Kapital

Angefangen hat alles 2016 im baschkirischen Ufa. Der Arzt Alexej Dmitrijew rief damals eine Initiative ins Leben, um gemeinsam mit anderen »Das Kapital« und andere marxistische Klassiker zu lesen und über aktuelle politische Themen zu diskutieren. Wöchentlich traf sich der Lesekreis in wechselnder Zusammensetzung, meist im lokalen Stalin-Museum, gelegentlich privat. Über die Jahre besuchten bis zu 300 Personen die Treffen, wobei sich nicht nur Kommunisten zum Disput einfanden, sondern auch Anhänger rechter oder libertärer Ideen. Auf Youtube veröffentlichte Dmitrijew Mitschnitte und eigene Vorträge.

»Erschießen Sie mich einfach. Ich verstehe nicht, was mir zur Last gelegt wird.«

Jurij Jefimow Verurteilter Marxist

Am 25. März 2022 wurden Dmitrijew und vier weitere Personen verhaftet. Der Älteste unter ihnen, Jurij Jefimow, war einige Jahre zuvor aus der kommunistischen Partei KPRF ausgeschlossen worden. Dmitrij Tschuwilin saß früher als Abgeordneter der KPRF im baschkirischen Parlament, hatte die Partei jedoch verlassen. Dem Komplott sollen laut Anklage außerdem Pawel Matisow und Rinat Burkejew angehören – beide hatten 2014 im Donbass gekämpft. Und über sie stieß mit Sergej Saposchnikow ein dritter Kämpfer zu den Marxisten, der im Verfahren nur als Zeuge auftrat, ohne dessen Zutun es zum Prozess vermutlich gar nicht erst gekommen wäre.

Ehemaliger Donbass-Kämpfer verrät den Lesekreis

Saposchnikow hatte im Februar 2022 Anzeige beim Inlandsgeheimdienst FSB gestellt und Audioaufnahmen von den marxistischen Treffen mitgeliefert, darunter bei seinen Vernehmungen nach Beginn der russischen Großinvasion in die Ukraine auch solche, die verbal geäußerte Überlegungen zum »imperialistischen Krieg« enthielten. Der gebürtige Ukrainer Saposchnikow war wegen eines tödlichen Raubüberfalls 2014 in Dnepropetrowsk zur Fahndung ausgeschrieben, erwarb inzwischen die russische Staatsbürgerschaft und wurde nie ausgeliefert.

Aus der Anklage geht hervor, dass Matisow, der bei den Dumawahlen 2021 erfolglos als Kandidat der Partei »Kommunisten Russlands« angetreten war, dazu angeregt haben soll, sich auch im Grünen zu treffen. Zudem soll er konspirative Regeln eingeführt und Decknamen zugeteilt haben. Bei einer Hausdurchsuchung stellten die Ermittler ein Sportgewehr mit optischem Visier, eine Pistole und Kampfgranaten sicher. Matisow sagte aus, die Granaten seien ihm untergeschoben worden. 2020 soll Matisow seine Komplizen dazu angehalten haben, sich auf die »Stunde X« vorzubereiten. Der Plan habe vorgesehen, zunächst Polizeikräfte mit scharfen Spaten anzugreifen und danach die Waffenkammer der Ermittlungsbehörde und eine Kaserne zu attackieren. Mit Airsoft-Gewehren hätte die Gruppe Schießübungen veranstaltet, sich per touristischen Funkgeräten verständigt und erste Hilfe geübt.

Prozesse gegen andere Linke könnten an Fahrt aufnehmen

Als Beweis für eine Umsturzabsicht musste zudem ein am 1. Mai 2020 aufgenommenes Video herhalten, auf dem Jefimow einen Aufruf verliest, der fast wortwörtlich Lenins »Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes« von 1918 wiedergibt. In seinem letzten Wort vor Gericht sagte der an Diabetes erkrankte Jefimow: »Erschießen Sie mich einfach. Ich verstehe nicht, was mir zur Last gelegt wird.«

Jetzt, wo das Urteil gefallen ist, könnte der im September bis auf Weiteres unterbrochene Prozess gegen den einstigen Koordinator der Linksfront, Sergej Udalzow, wieder an Fahrt aufnehmen. Wegen Rechtfertigung von Terrorismus befindet sich der linke Moskauer Politiker seit fast zwei Jahren in Haft. Sein Vergehen: Er hatte öffentlich seine Solidarität mit den Marxisten aus Ufa bekundet.

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