Las Vegas: Kitsch auf sieben Kilometern Strip

Sphere, High Roller, Kopien weltberühmter Orte: Las Vegas ist Kitsch als System – und perfekter Startpunkt für Roadtrips in den Südwesten

  • Carsten Heinke
  • Lesedauer: 7 Min.
Göttlich, pompös: Statuen vorm Hotel Ceasar’s Palace
Göttlich, pompös: Statuen vorm Hotel Ceasar’s Palace

Die kühle, frische Luft, die durchs offene Autofenster strömt, riecht nicht nach Sand und auch nicht nach Kakteen. Dennoch ist man mitten in der Wüste. Sie heißt genauso wie die Menschen, die hier vor langer Zeit zu Hause waren: Mojave – ein indigenes Volk, das Landwirtschaft betrieb und viele Kriege führte. Die Frauen trugen Biber- und Kaninchenfelle. Ihre Männer waren unbekleidet. Das zumindest behauptete das erste Bleichgesicht, das 1775 in ihre Welt eindrang: der Mönch Francisco Garcés.

Von Missionaren oder nackten Ureinwohnern ist zu dieser späten Stunde weit und breit nichts mehr zu sehen. Der fünfspurige Highway Interstate I-15 N könnte die Ankömmlinge aus Europa vom Harry Reid Airport sonst wohin ins Dunkel führen. Doch bringt er sie vorerst nur ein paar Meilen in nördliche Richtung – nach Las Vegas. Die angeblich hellste Stadt der Welt ist Start- und Endpunkt ihrer Mietwagenrundreise durch Nevada, Arizona, Utah. Einige der schönsten Gegenden im Südwesten der USA und zwölf aufregende, erlebnisreiche Tage liegen vor ihnen.

Vom Truckernest zur Glamourcity

Es regnet nicht. Doch geht der Scheibenwischer – automatisch, wie es sich für einen Hightech-Van geziemt. Wie stellt man ihn ab? Und weiß der Wüstenfuchs, warum die rote Ampel jetzt eine leere Kreuzung sperrt. Für die beiden müden Insassen ein kleiner Zeitgewinn, um zu ergründen, wie sich die quietschende Nervensäge an der Heckscheibe zum Schweigen bringen lässt. Dass sie nicht am Tag gelandet sind, hat einen Vorteil: Die breite Fahrbahn gehört ihnen fast ganz allein. Zunächst.

Je weiter sie sich auf die Skyline zubewegen, umso zahmer und vertrauter fügen sich die 390 Pferdestärken des überdimensionierten SUV. Vor den Reisenden liegt, im Glamourglanz des abendlichen Lichtermeeres, die wohl verrückteste und sonderbarste Stadt der Welt.

Mitte des 19. Jahrhunderts waren ein paar Quellen das einzig Attraktive dieses Wüstenortes. Als erste Nichteinheimische besiedelten ihn kurzzeitig Mormonen. Später diente er als Fort der US-Armee und Wegstation für Reisende zwischen Kalifornien und New Mexico. Mit Anschluss an die Eisenbahn 1905 wurde Las Vegas offiziell gegründet. Am Rand von Downtown ähnelt es mit seinen Zweckgebäuden jeder durchschnittlichen Stadt der USA. Doch weiß man, was sich ein paar Meilen weiter abspielt. Darum fühlt sich der Weg vom Parkplatz zum Hotel wie ein Theaterbesuch hinter den Kulissen an.

Doch bevor es ins Getümmel auf der »Bühne« geht, empfiehlt sich ein Besuch im MOB. Das »Nationale Museum für organisierte Kriminalität und Strafverfolgung« vermittelt anschaulich, wie aus dem Bahnhofsdorf Las Vegas eine »Stadt der Sünde« wurde und welch dunkle Seiten seine schillernden Fassaden zeitweise versteckten. Untergebracht ist es an einem authentischen Schauplatz, im neuklassischen ehemaligen Gerichts- und Postgebäude in Downtown, das 1933 eröffnet wurde.

»Der große Aufschwung kam 1931, als der Staat Nevada Glücksspiele legalisierte und seine Hochzeitsgesetze lockerte, um Touristen anzulocken«, ist beim Rundgang durch die Ausstellung zu hören. Man erfährt, wie Hotelcasinos, Wettbüros, zwielichtige Bars und Nachtclubs, aber auch Kapellen für die schnelle Heirat auf dem Heimweg in den 1930ern wie Pilze aus dem Boden schossen.

All das zog Spielbegeisterte und Glücksritter, Vergnügungshungrige, aber auch leichte Opfer und brutale Täter an. Gangsterbosse und ihre Kartelle übernahmen peu à peu die ganze Stadt. In den 70er Jahren war sie bereits so heruntergekommen, dass brave Menschen eher einen Bogen um sie machten. Die »Mafia-Prozesse« in den 80ern beendeten die organisierte Kriminalität.

Groß, bunt, laut und viel

Mit gigantischen Bling-bling-Shows wie der von Siegfried und Roy mit ihren weißen Großkatzen und anderen publikumswirksamen Attraktionen hielt zu Beginn der 90er Jahre der Unterhaltungs- und Familientourismus in Las Vegas Einzug. Mit immer neuen Sensationen buhlen seither die Hotels um Gäste.

Lawinen von Touristen durchströmen Tag für Tag den Strip, die knapp sieben Kilometer lange Hauptvergnügungsmeile zwischen Mandalay Bay Resort und dem 350 Meter hohen Stratosphere Tower. Hier kann man vom ägyptischen Sphinx bis nach Venedig laufen und kommt sogar noch an New York und am Eiffelturm vorbei. Wer extraschräg heiraten will, gibt sich das Jawort auf dem Golfplatz oder bei einer »Eheschließung to go« in einem Drive-Thru-Wedding – ohne aus dem Auto zu steigen.

Tipps
  • Anreise: Von Berlin gibt es keine Direktflüge nach Las Vegas. Verbindungen mit je zwei Umstiegen (Dauer ab 13,5 Std.) haben z. B. British Air­ways, Condor, Finn­air, Iceland­air, KLM, Luft­hansa. Im Sommer fliegt Condor ab Frank­furt a. M. direkt nach Las Vegas.
  • Mietwagenrundreise: Explorer-Fern­reisen bietet »Utah ent­decken« als zwölf­tägige Tour mit elf Über­nach­tungen in Hotels der gebuch­ten Kate­gorie und Infor­ma­tions­hand­buch ab 660 Euro (ohne Flüge, Trans­fers und Miet­wagen) an. Stationen sind neben Las Vegas als Start- und End­punkt die land­schaft­lichen Attrak­tio­nen im Süd­westen der USA, darunter Zion National­park, Grand Canyon, Monu­ment Valley und Bryce Canyon. www.explorer.de
  • Aktivitäten: Tagestickets für das High Roller Wheel at The Linq gibt es ab ca. 29, für die Fly Linq Zip­line ab ca. 31 USD. (www.caesars.com) Das MOB Museum mit Aus­stel­lung und »Unter­grund« (Kneipe) liegt wenige Geh­minu­ten von der Free­mont Street entfernt, Eintritt ca. 35 USD. (www.th­emobmuseum.org) Kitschige Museen oder Museen mit Kitsch sind etwa Liberace Museum und Garage (https://liberace.org), Neon­museum (https://neonmuseum.org) und Arte Museum (https://lasvegas.artemuseum.com).
  • Auskunft: Mehr über Reisen durch die USA unter
    www.visittheusa.de

Alles ist ein Riesenrummelplatz, ein kitschig funkelnd bunter Mix – Hauptsache, groß, laut und viel. Und, wie die vielen Baustellen zeigen, ist kein Ende dieses Booms in Sicht. Das jüngste architektonische Highlight ist das 2023 eröffnete »Sphere«. Das zum Resort The Venetian gehörende kugelförmige Bühnenhaus mit fast 160 Metern Durchmesser ist das weltgrößte Konstrukt seiner Art. Knapp 60 Millionen LEDs machen seine Außenfläche zu einem riesigen Kugelbildschirm.

Kurzzeitig ebenfalls ein Weltsuperlativ war der »High Roller«, mit knapp 168 Metern immerhin noch das zweithöchste Riesenrad der Welt. Entgegen vieler Behauptungen wurden diese vertikalen Karussells übrigens nicht in den USA erfunden. Zwar ging hier 1893 zur Weltausstellung in Chicago das erste wirklich imposante, über 80 Meter hohe Riesenrad in Betrieb. Seine deutlich kleineren Vorgänger drehten sich jedoch bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Bulgarien.

Mit dem Cocktail in den Himmel

Vom Hotelzimmer schaut man direkt auf das mit mehr als 2000 LEDs illuminierte Monsterrad. Wie eine Raumstation ragt es zwischen all den hell erleuchteten Straßen und Gebäuden in den nächtlichen Las-Vegas-Himmel. In jeder seiner 28 geschlossenen Gondeln haben bis zu 40 Leute Platz.

Je nach Bedarf lässt sich jede der ufoartigen Kabinen mit einer rollenden Bar ausstatten. Per Happy-Hour-Ticket kann man während der 30-minütigen Fahrt so viel trinken, wie man schafft. Besonders happy sind wohl die, die das fliegende All-you-can-drink-Erlebnis mit nur wenigen anderen teilen müssen. Mit ganz viel Glück hat man die Bar nebst Barmann oder -frau sogar ganz für sich allein.

Und wem der Weg dorthin zu Fuß zu uncool ist, der kann sich à la Superman – bäuchlings durch die Luft – per Fly Linq Zipline auf The High Roller zubewegen. Sitzend geht natürlich auch und ist sogar noch etwas billiger. Die 35 Meter hohe Startrampe der Seilrutsche befindet sich im zwölften Stock des Linq-Hotels. Das ist mit dem Riesenrad verlinkt durch eine Promenade gleichen Namens. Direkt darüber, an 330 Meter langen Seilen, können maximal zehn Superheros gleichzeitig die Welt retten, natürlich immer lauthals schreiend. In der Hoffnung, dass keinem Helden von der Höhe oder dem letzten schnellen Cocktail plötzlich übel wird und sie davon beregnet werden, schauen die Passanten unten zu.

Jedem seine Disco

Tanzen unter Kopfhörern: Silent Disco
Tanzen unter Kopfhörern: Silent Disco

Während ringsum plötzlich alle mit ihren Armen fuchteln, hüpfen oder wenigstens ein bisschen wackeln, stehen die beiden deutschen Touris wie blöd mit ihrem Zehn-Dollar-Eis herum. Sie sind beim Schlendern über die dicht gefüllte Promenade in eine Silent Disco (Stille Disco) geraten. Von Musik ist nix zu hören, denn die schickt der DJ jedem direkt auf die Ohren – auf drei verschiedenen Kanälen. »Hey, tanzt doch auch!«, sagt Julie und drückt den beiden Verwunderten kabellose Kopfhörer in die Hand. »Sucht aus, was euch gefällt«, sagt die Promoterin und zeigt den Knopf zum Wählen. Und schon ist die stumme Tanzgemeinde um zwei Zappler reicher. Für den Augenblick ist es ein Spaß, aber eigentlich doch ganz schön krank.

Nur ein paar Schritte weiter kann man sich gemeinsam an handgemachten Rhythmen freuen. Eine junge Schlagzeugerin zeigt ihr Können und leiht die Trommelstöcke gerne auch mal aus. Gegenüber zeigen Graffiti-Sprayer ihr Talent. Und Künstlerin Cerissa Lopez vom Bowling-Zentrum Brooklyn Bowl malt farbenfrohe Blumen an den Laternenpfahl. Dahinter auf dem Strip beginnt der abendliche Pendellauf zwischen der Fontänenshow vor dem Bellagio und dem »Untergang von Atlantis« in den Forum-Shops im Caesars Palace.

Ihr persönlich schönstes und komplett kitschfreies Las-Vegas-Erlebnis erwartet die beiden Autoreisenden am nächsten Morgen – bei der Abreise. Als die Sonne über Sunrise Mountain aufgeht und erst die Mojave-Wüste, dann die ganze City mit einem Feuerschein bedeckt, sind sie schon wieder auf der Interstate. Der Süd-Nord-Highway bringt sie aus der Rambazamba-Stadt in die Natur der umliegenden Nationalparks – hinein ins echte Reiseabenteuer Südwest-USA.

Die Recherche zu diesem Beitrag wurde unterstützt von Explorer Fernreisen.

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