Von der Gewalt der Geschlechterordnung

Jeden zweiten Tag versucht ein Mann, eine Frau zu töten – in den allermeisten Fällen seine Partnerin. Dies belegt eine kriminologische Studie

  • Interview: Tanja Röckemann
  • Lesedauer: 14 Min.
Berlin im August 2020: 50 Frauen protestieren am Brandenburger Tor gegen Femizid
Berlin im August 2020: 50 Frauen protestieren am Brandenburger Tor gegen Femizid

»Mit Männern leben« – so heißt ein Buch über den Prozess gegen Dominique Pélicot in Frankreich im vergangenen Jahr, das ich gerade lese. Ich musste daran denken, als ich mich auf dieses Interview vorbereitete. Was fällt Ihnen dazu ein?

Schwierig. Ich habe den Eindruck, dass sich viele Paare stark an traditionellen Vorstellungen abarbeiten – daran, was eine Paarbeziehung, romantische Liebe oder Familie angeblich sein soll. Wenn sie diese Normen nicht erfüllen, führt das oft zu Konflikten. Manchmal denke ich, dass es weniger Probleme gäbe, nähme man diese Vorstellungen von »Normalität« einfach nicht so ernst.

Sie forschen zu einem besonders grausamen Aspekt dieser Normalität: der Tötung von Frauen, dem »Femizid«. Können Sie etwas zur Entstehungsgeschichte des Begriffes sagen?

Der Begriff Femizid, wie wir ihn heute verwenden, wurde maßgeblich von Diana Russell geprägt. 1976 stellte sie den Begriff beim »International Tribunal on Crimes against Wogen« vor, um darauf aufmerksam zu machen, dass vielen Tötungsdelikten an Frauen sexistische oder patriarchale Strukturen zugrunde liegen. Politisch »erfolgreich« wurde der Begriff jedoch erst in den 2000er Jahren durch die Übersetzung ins Spanische. Die mexikanische Anthropologin und Abgeordnete Marcela Lagarde übersetzte femicide als feminicidio (Feminizid) im Zusammenhang mit den Frauenmorden in Ciudad Juárez an der Grenze Mexiko/USA, wo häufig besonders verletzliche Frauen getötet wurden, etwa Arbeitsmigrantinnen, die frühmorgens allein zur Arbeit gingen.

Interview

Sabine P. Maier ist Sozialwissenschaftlerin mit Schwerpunkten in intersektionaler Geschlechterforschung und geschlechts­bezogener Gewalt. Sie war wissen­schaft­liche Mitarbeiterin am Institut für Kriminologie der Universität Tübingen, arbeitet aktuell an der Fakultät Soziale Arbeit, Bildung und Pflege der Hochschule Esslingen und ist freie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Tübinger Institut für gender- und diversitätsbewusste Sozial­forschung und Praxis (tifs e. V.). Maier ist Ko-Autorin der aktuellen Studie »Femizide in Deutsch­land. Eine empirisch-krimino­logische Untersuchung zur Tötung an Frauen«, die im Rahmen eines DFG-Projekts vom Institut für Kriminologie der Universität Tübingen und dem Krimino­lo­gischen Forschungsinstitut Niedersachsen veröffentlicht wurde.

Diese Gewalt war extrem brutal, öffentlich sichtbar und wurde kaum verfolgt. Lagarde betonte den strukturellen Charakter der Feminizide und kritisierte, dass der mexikanische Staat die Menschenrechte von Frauen nicht wirksam schützt. Das ist der kleine Unterschied zwischen den Begriffen Femizid und Feminizid, wobei der in der Praxis zunehmend unwichtiger wird; es gibt inzwischen eine Vielzahl an Definitionen. Was sie aber alle gemeinsam haben: Sie politisieren tödliche oder potenziell tödliche Gewalt gegen Frauen.

Die Aneignung des Begriffs in Deutschland erfolgte deutlich später, oder?

Dass hierzulande über Femizide gesprochen wird, hängt stark damit zusammen, dass feministische Akteurinnen sich von den Bewegungen in Lateinamerika inspirieren ließen, etwa von »Ni una menos« in Argentinien im Jahr 2015. Hier begann – 20 Jahre zeitversetzt – eine Diskussion darüber, was der Begriff eigentlich bedeutet. Meist wird Femizid als »Tötung einer Frau, weil sie eine Frau ist« definiert. Das klingt prägnant, aber: Woran erkennt man im konkreten Fall, dass eine Frau wegen ihres Frauseins getötet wurde? Darüber bestehen sehr unterschiedliche Auffassungen, je nach Disziplin und Perspektive – ob soziologisch, psychologisch oder strafrechtlich. Zudem fehlt in den meisten Fällen eine ausreichende Informationslage, um diese Frage eindeutig zu beantworten.

Und wie ist Femizid derzeit in Deutschland definiert?

Es gibt in Deutschland keine offizielle oder einheitliche Definition, und das ist vielleicht auch okay so. Wie gesagt, es kommt sehr stark darauf an, welche Perspektive man einnimmt und für welchen Zweck. Eine sozialwissenschaftliche Definition hat andere Anforderungen als eine strafrechtliche. Wir haben in unserem Projekt kriminologisch gearbeitet, also versucht zu verstehen, wie es zu den einzelnen Delikten kommt. Wir beanspruchen damit keine alleinige Deutungshoheit über den Begriff. Wir haben unsere Femizid-Definition an internationale Diskurse angelehnt: Im Prinzip spricht man hier von Gender-related Killings, also geschlechtsbezogenen Tötungen von Frauen und Mädchen.

Geschlechtsbezogene Gewalt wird unter anderem in der Istanbul-Konvention definiert als Gewalt, die Frauen trifft, weil sie Frauen sind, oder von der Frauen überdurchschnittlich betroffen sind. Darin sehen wir zwei Ebenen: Zum einen das individuelle sexistische Motiv – etwa wenn ein Täter eine Frau bestraft, weil sie nicht seinen Vorstellungen von Geschlechterrollen entspricht. Zum anderen die strukturelle Dimension – Gewalt im familiären Kontext, in Paarbeziehungen oder sexualisierte Gewalt, von der Frauen deutlich häufiger betroffen sind. Die Unterscheidung nach diesen zwei Ebenen bedeutet aber auch, dass nicht in jeder einzelnen Fallkonstellation, die überwiegend Frauen betrifft, dann auch notwendigerweise ein sexistisches Motiv des einzelnen Täters oder der Täterin gefunden werden muss.

Interessant, dass sich das Phänomen offenbar gar nicht so leicht systematisieren lässt.

Das liegt unter anderem daran, dass die sexistische Motivation für eine Tötung eben schwer zu belegen ist – unter anderem deshalb finden sich in der Polizeilichen Kriminalstatistik auch keine Informationen über Motive. Auch Gerichte tun sich oft schwer, die Beweggründe eines Täters genau zu bestimmen. Täter sind nicht verpflichtet, sich zu äußern, dürfen lügen oder verstehen ihr eigenes Handeln selbst nicht immer. Eine Definition, die auf Motive abstellt, lässt sich daher nur schwer in Daten übersetzen. Besonders in Ländern wie Mexiko, wo Strafverfolgung oft gar nicht stattfindet, fehlen solche Informationen völlig. Wenn es überhaupt Statistiken gibt, erfassen sie meist nur die Zahl weiblicher Opfer sowie eventuell Beruf oder die Beziehung zu identifizierten Tatverdächtigen.

Und wie wäre die strukturelle Herangehensweise?

Hier arbeitet man mit Indikatoren, etwa Täter-Opfer-Beziehungen. Weltweit ist klar belegt, dass Frauen überwiegend in Partnerschaften oder innerhalb der Familie getötet werden, deutlich häufiger als im öffentlichen Raum oder durch flüchtige Bekannte. Das weist auf eine strukturelle Schieflage hin, also auf einen geschlechtsbezogenen Zusammenhang, auch wenn die individuellen Motive unbekannt bleiben.

Wenn sich die Motive nicht aus den Aussagen der Täter ergeben, wie lassen sich dann überhaupt eindeutige Rückschlüsse auf Beweggründe und Zusammenhänge ziehen?

Wir haben versucht, uns anhand des verfügbaren Datenmaterials den Kontexten und Motiven anzunähern. Unser Ausgangspunkt waren Strafverfahrensakten. Für fünf Bundesländer haben wir von den Landeskriminalämtern Listen zu Tötungsdelikten an weiblichen Personen aus dem Jahr 2017 erhalten, einschließlich versuchter Taten. Über die Aktenzeichen haben wir bei den zuständigen Staatsanwaltschaften Einsicht beantragt, was in den meisten Fällen auch gelang. So erhielten wir das Material aus den Strafverfahren: polizeiliche Ermittlungsunterlagen, Vernehmungsprotokolle, Zeugenaussagen, teils Chatverläufe, Anklageschriften und Urteile. Damit konnten wir nachvollziehen, was auch die Strafverfolgungsbehörden gesehen und dokumentiert hatten. Auf dieser Grundlage haben wir versucht, Muster zu erkennen und verschiedene Typen von Delikten zu bilden – also Gruppen von Fällen, die gemeinsame Merkmale aufweisen und sich von anderen unterscheiden.

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Und was sind das für Typen? Lässt sich hieraus auch etwas über das Verhältnis von Täterschaft und Männlichkeit ableiten?

Tatsächlich sind die Täter bei Femiziden fast ausschließlich Männer, mit Ausnahme von zwei, drei Delikten, die von Töchtern gegen ihre Mütter begangen wurden. Der eindeutig größte Schwerpunkt liegt auf Femiziden im Kontext von Trennung oder Eifersucht. Diese Fälle haben wir De-Etablierungsfemizide genannt. Eine weitere Gruppe waren die alters- und krankheitsbezogenen Femizid-Suizide: Fälle von meist älteren, über Jahrzehnte verheirateten Paaren, bei denen die Frau schwer krank oder dement war.

Und der Mann in der Pflegerolle.

Genau. Häufig stand dem Paar ein Umzug in eine barrierefreie Wohnung oder ein Pflegeheim bevor, oder die Frau lebte bereits dort. In diesen Situationen beschlossen die Männer, die Frau zu töten und anschließend sich selbst. Das war ein markantes Muster: Alle töteten sich danach oder versuchten es. Es ging also nicht unbedingt darum, die zur Last gewordene Partnerin loszuwerden, sondern eher um das Gefühl, dass das gemeinsame Leben zu Ende ist und ohne die Partnerin kein Weiterleben möglich scheint. Diese Dynamik unterscheidet sich von den Trennungs- oder Eifersuchtsdelikten, bei denen meist die Frau die Beziehung beendet hat und der Mann nicht akzeptiert, dass sie sich seinem Willen nicht mehr fügt – bis hin zur tödlichen Gewalt.

Das erinnert mich an Amokläufe oder Massentötungen, etwa in den USA, die ja ebenfalls nahezu ausschließlich von Männern begangen werden, die sich häufig im Anschluss selbst töten. Also ist diese Logik nicht geschlechtsneutral.

Nein. Auch wenn die Täter sich selbst töten, ist das Verhaltensmuster zutiefst geschlechterbezogen. Es zeigt Vorstellungen männlicher Kontrolle und Überlegenheit – die Idee, über die Beziehung und damit über Leben und Tod der Partnerin entscheiden zu dürfen. Ich denke aber, man muss unterscheiden, ob man fragt, was Gewalttätigkeit allgemein mit Männlichkeit zu tun hat, oder ob die Frage ist, was bzw. ob das konkrete Delikt an einer Frau mit Sexismus zu tun hat.

Ich weiß nicht, ob ich diese Unterscheidung wirklich einleuchtend finde …

Ich würde nicht sagen, dass es keinen Zusammenhang gibt. Aber wenn man den Begriff Femizid theoretisch ernst nimmt, dann setzt er voraus, dass das weibliche Geschlecht des Opfers für die Tat relevant war. Wenn man hingegen allgemein fragt, warum Männer töten und sich anschließend selbst töten, ist das Geschlecht des Opfers erst einmal zweitrangig.

Ja, das verstehe ich. Männer sind ja selbst das häufigste Opfer – allerdings wiederum männlicher – Gewalt. Worauf ich hinauswill: Es gibt hiereine generelle Gemeinsamkeit, nämlich die Bereitschaft zur tödlichen Gewaltanwendung. Das, was Männer dazu befähigt, ihre Partnerin zu töten, sich in dieser Rolle zu sehen, scheint doch eng mit allgemeinen Vorstellungen von Männlichkeit zusammenzuhängen.

Auf jeden Fall. Letztlich ist das eine Frage der Perspektive. Wenn man von Femiziden spricht, muss man immer berücksichtigen, welche Rolle das Geschlecht des Opfers spielt – nicht nur das Geschlecht des Täters. Man kann aber durchaus fragen, wo der Femizidbegriff an seine Grenzen stößt. Anfangs dachten wir, es zähle nicht als Femizid, wenn das Opfer »nur zufällig« weiblich ist. Dann hatten wir mehrere Fälle, in denen der Täter eine Frau für eine Trennung bestrafen wollte, aber nicht die Frau selbst, sondern stattdessen ihre Kinder oder ihren neuen Partner tötete. Doch wenn Kinder – egal welchen Geschlechts – getötet werden, um sich an einer Frau zu rächen, steckt dahinter eine zutiefst patriarchale Logik, aber mit dem Geschlecht der tatsächlich getöteten Personen hat das weniger zu tun.

Hier in Deutschland gibt es also, anders als etwa in Mexiko, kaum öffentlich begangene Frauenmorde.Das steht im völligen Gegensatz zur vielleicht sogar gängigsten Erzählung über die Gefahr für Frauen: der »Vergewaltiger im Busch« …

Das stimmt. Wir leben im Vergleich zu den Amerikas insgesamt in einer deutlich gewaltärmeren Gesellschaft – insbesondere, was Tötungsdelikte und Gewalt im öffentlichen Raum betrifft. Interessant ist jedoch, dass sich weltweit ein ähnlicher Trend zeigt: Wenn allgemein tödliche Gewalt abnimmt, sinken auch die Tötungen von Frauen, allerdings weniger stark. Das liegt daran, dass sie tendenziell in anderen Kontexten stattfinden, nämlich im sozialen Nahraum. Gewalt in Paarbeziehungen oder Familien, die überwiegend Frauen betrifft, bleibt also deutlich hartnäckiger bestehen als andere Formen von Gewaltkriminalität. Das führt in manchen Ländern, etwa in Österreich, dazu, dass heute fast ebenso viele oder gar mehr Frauen als Männer Opfer vollendeter Tötungsdelikte werden.

Ich musste beim Lesen Ihrer Studie an die Pandemie denken, als in den Medien über einen deutlichen Anstieg von Partnerschaftsgewalt berichtet wurde. Das spiegelt sich bei der Zahl der Femizide offenbar nicht wider. Das legt ja nahe, dass tiefere gesellschaftliche Strukturen eine Rolle spielen – also Faktoren, die fortbestehen, auch wenn die allgemeine Gewalt abnimmt. Man könnte etwa an kapitalistische Arbeitsverhältnisse denken, an die Trennung von Produktions- und Reproduktionssphäre und die Rollen, die Frauen darin übernehmen. Auch Konkurrenzdruck und Frustration können da einwirken. Studien zeigen ja, dass Frauen häufiger gefährdet sind, wenn sie etwa beruflich erfolgreich oder höher gebildet sind. War das bei Ihrer Studie ein Fokus?

Nicht direkt, wir sind eher explorativ vorgegangen. Das ist auch schwierig, denn es wird oft betont – und es stimmt grundsätzlich –, dass Gewalt in allen sozialen Schichten vorkommt. Tötungsdelikte als besonders extreme Gewalt sind allerdings nicht gleich verteilt. Es gibt Risikofaktoren, die bestimmte Situationen verschärfen. Besonders bei den De-Etablierungsfemiziden war auffällig, dass fast die Hälfte der Täter erwerbslos oder bereits in Rente war. Viele Paare lebten in prekären Verhältnissen, häufig begleitet von Alkohol- oder Drogenproblemen, manchmal auch von Spielsucht.

Auffällig war zudem, dass in einigen Fällen die Frauen die aktivere Rolle übernahmen: Sie waren berufstätig, organisierten Haushalt und Familie und kümmerten sich zusätzlich um Männer, die aus unterschiedlichen Gründen, teils aufgrund psychischer Probleme, nicht arbeiteten. Diese Männer entsprachen damit nicht dem traditionellen Ideal hegemonialer Männlichkeit.

Die Überzeugung, die Frau habe es ihnen recht zu machen, hatten aber auch diese Männer.

Ja. Man könnte es zugespitzt so formulieren: Es ist der Versuch, die Frau mit Gewalt dazu zu bringen, sie zu lieben. Für viele dieser Männer schien die Partnerschaft die einzige Quelle, ihre Männlichkeit im klassischen Sinne zu bestätigen – über das Machtverhältnis zur Frau. Wenn diese Beziehung dann zerbricht, etwa weil die Frau sich trennt und gegebenenfalls auch die Kinder mitnimmt, stehen sie mit nichts da: ohne Arbeit, mit geringer sozialer Einbindung und ohne emotionale Bewältigungsstrategien. Sie geraten in eine Spirale aus gefühlter Ohnmacht und Fixierung, in der sie schließlich glauben, die Tötung der Frau sei der einzige Ausweg.

Meinen Informationen nach folgt Partnerschaftsgewalt in der Regel einem vorhersehbaren Eskalationsmuster: von emotionaler über körperliche Gewalt, im Extremfall bis hin zur Tötung; manchmal ungeplant, aber immer basierend auf der Annahme des Täters, seine Partnerin hätte ihm zur Verfügung zu stehen. Ihre Studie kommt zu dem Schluss, dass es besondere Risikofaktoren gibt, die Sie mit sozialer Abgehängtheit in Zusammenhang stellen. Aber Männer, die ihre Partnerinnen schlagen, gibt es doch in allen sozialen Schichten, oder?

Dazu ist die Studienlage nicht eindeutig. Gewalt gibt es in allen Milieus, aber ob sie gleich verteilt ist, ist fraglich. Tötungsdelikte sind es jedenfalls nicht. Wir haben zwar De-Etablierungsfemizide in allen sozialen Schichten gefunden, vom Obdachlosen bis zum Unternehmensberater, aber es war schon auffällig, dass viele Täter in sozioökonomisch prekären Verhältnissen lebten. Damit jemand so extrem handelt, wie einen anderen Menschen zu töten, müssen schon einige Dinge zusammenkommen.

Bei den Tötungsdelikten, die wir untersucht haben, insbesondere im Zusammenhang mit Trennung oder Eifersucht, gab es auch das zyklische Wechselspiel von Gewalt, Versöhnung und Ruhephasen – aber der tatsächliche Tötungsakt passierte erst dann, wenn der Mann realisierte: Die Beziehung ist endgültig vorbei, ich verliere die Kontrolle über sie. Wenn die Frau die Trennung ernst meint oder eine neue Beziehung eingeht. Das widerspricht dem Stereotyp, dass Tötungen mitunter die unbeabsichtigte Eskalation wiederholter Misshandlungen sind, die »aus dem Ruder gelaufen« sind – es handelt sich meist um bewusste Entscheidungen zur Tötung.

Ich sehe das nicht unbedingt als Widerspruch: Diesen Morden wird doch sicher eine langfristige Etablierung von emotionaler und/oder physischer Gewaltanwendung vorausgegangen sein. Aber kommen wir zur Frage nach der Rolle des Rechts und der Justiz. Wie beurteilen Sie die Bedeutung von Strafverfolgung und Verurteilungen im Hinblick auf eine mögliche Reduzierung solcher Taten? Soweit ich weiß, hat das Strafrecht, zumal im Fall von Tötungen, gar keine abschreckende Wirkung.

Es stimmt, dass Strafrecht kaum präventiv wirkt. Gerade bei Tötungsdelikten im sozialen Nahraum ist es wenig plausibel, dass härtere Strafen Täter abschrecken. Viele wissen genau, was sie erwartet, tun es trotzdem – und lassen sich anschließend widerstandslos festnehmen. Dennoch ist es nicht irrelevant, wie streng bestraft wird, denn das spiegelt gesellschaftliche Werte: dass solche Taten als besonders verwerflich gelten. Aber ein eigener Straftatbestand für Femizide würde vermutlich keine Taten verhindern.

Was wären denn sinnvolle Präventivmaßnahmen?

Man muss deutlich früher ansetzen und Frauen den Weg aus gewaltvollen Beziehungen erleichtern. Schon bei früher Gewalt stellt sich die Frage, wie effektiv Strafverfolgung eigentlich ist. In unserer Stichprobe suchten viele Frauen gar keine polizeiliche Hilfe – oder sie wirkte kontraproduktiv, weil Täter Anzeigen oder Wohnungsverweise als zusätzliche Provokation empfanden. Entscheidend sind gut finanzierte Beratungsstellen, eine ausreichende Zahl von Frauenhausplätzen und verlässliche Unterstützungsstrukturen. Frauen müssen realistisch fliehen können. Dazu gehört aber auch Sozialpolitik: Prekäre Lebenslagen und Wohnungsknappheit erschweren Trennungen. Wird ein gewalttätiger Mann aus der Wohnung gewiesen und steht plötzlich auf der Straße, entsteht mitunter ein Schuldgefühl oder Mitleid bei der Frau. Und auch das Umgangsrecht muss so angewendet werden, dass es Gewaltschutz nicht konterkariert.

Das alles wirkt aber nicht präventiv, sondern reaktiv – die Gewalt ist dann immer schon irgendwie geschehen! Echte Prävention müsste doch verhindern, dass Gewaltanwendung überhaupt stattfindet, der Wille dazu besteht. Ganz konkret gesagt: Man müsste bei der Sozialisation von Jungen ansetzen, damit Sexismus und Misogynie gar nicht erst entstehen.

Das stimmt. Die zentrale Prävention von Femiziden wäre eine Gesellschaft, in der Männer, Frauen und andere Geschlechter auf Augenhöhe leben und Weiblichkeit nicht abgewertet wird, weder strukturell noch kulturell. Letztlich muss es um veränderte Geschlechterverhältnisse gehen, das heißt eine gerechtere Verteilung von Sorgearbeit, neue Rollenbilder, Gleichstellung im Alltag. Aber genau das scheint in Deutschland noch zu stocken.

Das knüpft an den Ausgangspunkt unseres Gesprächs an: »Mit Männern leben« – das bedeutet heute immer noch alltäglich ungleiche, patriarchale Rollenverteilungen bis hin zu tödlichen Konsequenzen für einige Frauen. Zum Schluss nun noch mal eine persönliche Frage: Femizid ist ja ein sehr belastendes Thema. Gelingt es Ihnen, nach der Arbeit mit Akten, die auch Fotos von Morden und Misshandlungen enthalten, auf Abstand zu kommen?

Leicht ist das nicht. Ich beschäftige mich schon sehr lange mit dem Thema und habe mit der Zeit gelernt, wie wichtig eine klare Work-Life-Balance ist – an sich schon eine Herausforderung in der Wissenschaft. Irgendwann habe ich deshalb beschlossen: Nach 16 Uhr öffne ich keine Akte mehr.

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