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Gießen: Parlamentarische Beobachter werten Polizeieinsatz aus
Die Linke fordert Aufarbeitung der Geschehnisse in Gießen
Ende November demonstrierten über 50 000 Menschen in Gießen gegen die Neugründung der AfD-Jugendorganisation »Generation Deutschland«. Es war die größte antifaschistische Mobilisierung in der Geschichte der Bundesrepublik. Das Bündnis Widersetzen – bestehend aus Gewerkschafter*innen, Studierenden, migrantischen Gruppen bis hin zu den Omas gegen rechts – hatte zu Blockaden aufgerufen, an denen bis zu 15 000 Menschen teilnahmen.
Nun hat die Bundestagsfraktion der Linken den Bericht ihrer 14 parlamentarischen Beobachter*innen veröffentlicht. Mit dabei war etwa der Bundestagsabgeordnete Luke Hoß, der »nd« erklärte, dass die Linksfraktion es »als Teil ihrer Verantwortung sieht, das Handeln der Regierung und Behörden nicht nur im Parlament, sondern auch direkt zu kontrollieren«. Dazu zähle auch, »das Handeln der Polizei zu beobachten«. Die Erkenntnisse aus dieser Arbeit sollen in die politische Praxis im Parlament eingebracht werden.
Bereits vorab gab es juristische Auseinandersetzungen um die Versammlungsfreiheit. Die Stadt hatte zum Beispiel ein Demonstrationsverbot direkt vor den Messehallen erlassen, in denen der Gründungskongress stattfinden sollte, wogegen sich unter anderem der DGB und die Linke Gießen gerichtlich zur Wehr setzten.
Letztendlich setzte sich die Stadt Gießen durch. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof ging wie es in dem Bericht heißt davon aus, »dass aufgrund der hohen Zahl erwarteter Teilnehmer*innen und des geringen Platzes eine unmittelbare Gefahr für Leben beziehungsweise Gesundheit der Versammlungsteilnehmer*innen bestünde«. Und die Durchführung der Veranstaltung auf der anderen Seite der Lahn »würde noch Protest in Hör- und Sichtweite der Gründungsveranstaltung der AfD-Jugendorganisation ermöglichen«.
Der Grundsatz von Protest in Hör- und Sichtweite ist gemäß den Beobachter*innen in der Rechtsprechung seit Langem anerkannt. Der durch den Verwaltungsgerichtshof verfügte Versammlungsort befinde sich zwar nur etwa 150 Meter Luftlinie von der Hessenhalle entfernt – »aufgrund der Böschung auf beiden Seiten der Lahn sowie weiterer Begrünung und Bebauung ist Protest in Sichtweite jedoch nicht möglich«, so der Bericht. Gegen die Entscheidung habe Die Linke Gießen deshalb Verfassungsbeschwerde erhoben, über die noch nicht entschieden worden sei. Zudem würden »Mutmaßungen« über mögliche Verhaltensweisen von Personen nicht für die Begründung ausreichen. Dies entspreche nicht dem verfassungsrechtlichen Maßstab.
Bereits vorab soll zudem ein einseitiges Bild seitens verantwortlicher Politiker wie etwa durch den hessischen Minister des Inneren, für Sicherheit und Heimatschutz, Roman Poseck (CDU), gezeichnet worden sein, indem er die Aktionen von Widersetzen als gewalttätig und rechtswidrig ankündigte. Dies führte laut Bericht zu »einem angespannten Klima in der Stadt«.
Im Anschluss an die Proteste überschlugen sich die Berichte über Gewalt bei den Protesten und über die Legitimität der von der Polizei eingesetzten Mittel. Hoß selbst war bei im Bericht geschilderten Situationen dabei. Dort heißt es, die Polizei habe Demonstrierende mittels »Schlagstock, Faustschlägen und Pfefferspray« gestoppt. Ein Polizist habe den Demonstrierenden zugerufen: »Kommt doch, ich mach sie [die Pfefferspraydose] gerne leer.« Mehrere Menschen seien dabei verletzt worden. Bei einer friedlichen Sitzblockade habe die Polizei umgehend eingegriffen: »Menschen wurden aus der Blockade gerissen und getreten, über den Asphalt geschleift, in die Leitplanken gedrängt. Es wurde Pfefferspray eingesetzt. Eine Person wurde infolgedessen ohnmächtig und musste von einem Rettungswagen abgeholt werden.«
Für Noa Sander von Widersetzen ist heute klar, dass »die massive Polizeigewalt in Gießen politisch gewollt war«. Sander präzisiert: »Es ist kein Zufall, dass überall in Gießen Polizist*innen auf Antifaschist*innen einprügelten. Und es ist kein Zufall, dass der CDU-Innenminister diese Gewalt mit Lügen kaschiert und lieber Nazis als Menschenrechte schützt.«
Luke Hoß zeigt sich weiterhin überwältigt vom Protesterfolg: »Wir haben klar gemacht, dass wir uns die Neugründung einer rechtsextremen Jugendorganisation nicht unwidersprochen gefallen lassen – im Gegenteil.« Dennoch kritisiert er die mangelnde Kooperationsbereitschaft der Polizei mit Demonstrierenden und parlamentarischen Beobachter*innen »sowie die Einschränkung unserer Rechte«. Deswegen fordert er mit der Linken »eine unverzügliche transparente Aufarbeitung dieses Einsatzdebakels durch eine unabhängige Stelle«. Sander bekräftigt den Widerstandswillen: »All das konnte den antifaschistischen Widerstand von Zehntausenden nicht verringern. Unsere Aktionen waren ein riesiger Erfolg und haben Mut und Widerständigkeit in die Gesellschaft getragen. Das tragen wir weiter und werden im Juli in Erfurt den Parteitag der AfD mit noch mehr Menschen blockieren.«
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