Angesichts der aktuellen Diskussion um die Stellung der Kassenärztlichen Vereinigung im Gesundheitswesen ist es notwendig und heilsam, an die Restauration dieser in NS-Zeit gegründeten staatsmonopolartigen Institution vor gut einem halben Jahrhundert zu erinnern.
Bereits kurz nach der »Machtergreifung« der Nazis beschlossen die führenden NS-Gesundheitspolitiker unter Leitung des späteren Reichsärzteführers Dr. med. Gerhard Wagner, die zentrale Schaltstelle des zukünftigen staatsmedizinischen Netzwerkes in einem so genannten Haus der Deutschen Ärzte unterzubringen. Umgehend wurde ein Gutachter damit beauftragt, in Berlin ein dafür geeignetes Gebäude zu bestimmen, in dem sich »zu wichtigen Beratungen und Beschlüssen, denen unter der nun autoritären Regierungsform besondere Bedeutung zukommt, alle maßgebenden Herren in (der) Reichshauptstadt« sofort versammeln könnten (Deutsches Ärzteblatt vom 1. Juli 1933). Dieses »Haus der Deutschen Ärzte« wurde der martialisch wirkende, in den Kriegsjahren 1914/15 errichtete Zweckbau in der Lindenstraße 42, keine anderthalb Kilometer von der Reichskanzlei in der Wilhelmstraße entfernt. Nach entsprechendem Ausbau nahm die Schaltstelle der NS-Medizin - Reichsärztekammer und Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands (KVD) - hier ihr Quartier.
Die Gründung der KVD war keineswegs nur eine Zusammenfassung der Kassenärztlichen Vereinigungen, die bereits vor 1933 auf Länderebene existierten. Mit ihr wurde vielmehr das demokratische Machtgleichgewicht zwischen den Krankenkassen als Interessenvertreter der Patienten und den Ärztevereinigungen zerstört und eine Neuordnung zu Gunsten letzterer vorgenommen. In seiner Erklärung »Zum zehnjährigen Bestehen der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands« resümierte einer ihrer Repräsentanten, Dr. med. Heinrich Grote: »Die Jahrzehnte vor der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus haben gezeigt, daß über das Schicksal des deutschen Arztes auf dem Boden der deutschen Krankenversicherung entschieden wurde... Der Nationalsozialismus befreite den Arzt endlich von den Fesseln, unter denen das deutsche Arzttum Jahrzehnte lang gelitten hatte. Mit der Errichtung der KVD durch Verordnung vom 2. August 1933 wurde die erste sich über das ganze Reich erstreckende ärztliche Selbstverwaltungskörperschaft verwirklicht.« (Deutsches Ärzteblatt vom 1. August 1943) Doch damit nicht genug. Die KVD avancierte zum Machtfaktor innerhalb der zentralen Schaltstelle des staatsmedizinischen Netzwerkes. Grote: »...sie ist ein Werkzeug geworden, dessen sich die Reichsgesundheitsführung bedient. Sie steht mit allen maßgeblichen Stellen der Partei und des Staates in Verbindung und führt im Zusammenwirken mit ihnen aus, wo es auf dem Gebiet der ärztlichen Versorgung etwas durchzuführen gibt«. Dazu gehörten antijüdische Maßnahmen der KVD am Vorabend des Pogroms von 1938.
Mit der Zerschlagung der Hitlerdiktatur durch die alliierten Armeen wurde auch das staatsmedizinische Netzwerk zerschlagen. Die Führung der KVD hatte sich in den Westen abgesetzt. An eine Wiederauferstehung der KVD war angesichts der Niederlage Nazideutschlands, die durch das Potsdamer Abkommen der Antihitlerkoalition vom 2. August 1945 juristisch besiegelt worden war, eigentlich nicht zu denken. Alle nazistischen Gesetze, also auch die Verordnung über die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands vom 2. August 1933, sollten nach dieser Völkerrechtskonvention abgeschafft werden. Dennoch begannen sich die totgeglaubten Nervenstränge der KVD sehr bald wieder zu regen. Die Reaktion in der amerikanischen Besatzungszone fiel harsch aus. Die Amerikaner waren nicht nur gegen eine Wiederbelebung der KVD, sondern überhaupt gegen die Kassenärztlichen Vereinigungen. Schon im Oktober 1945 verlangte das Hauptquartier der Amerikanischen Streitkräfte in Europa per Anordnung von den Ärztefunktionären eine völlige Reorganisation der ärztlichen Selbstverwaltung. Derartige Auflagen konnten allerdings jene - oft unter Ausnutzung der Gegensätze zwischen den Besatzungsmächten - stets unterlaufen, so dass sie bereits 1948 mit einer arbeitsfähigen Zentrale des KV-Netzwerkes wieder aufwarten konnten. »Die fehlende Spitze, welche die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands, Sitz Berlin, darstellte, ist mittlerweile ersetzt worden durch die Arbeitsgemeinschaft der Landesstellen der Kassenärztlichen Vereinigungen«, verkündete ihr Erster Vorsitzender Dr. med. Ludwig Sievers ein Jahr später in Bad Nauheim, amerikanische Besatzungszone, am neuen Sitz der restaurierten KV-Zentrale.
Die Amerikaner ließen jedoch nicht locker. Die Restauratoren ihrerseits entschieden sich für eine »bewegliche Kampfführung« (Ärztliche Mitteilungen, Oktober 1949), die es ihnen erlaubte, sich mehr und mehr dem Zugriff der Amerikaner zu entziehen, z.B. durch Zonenwechsel. So berief Dr. Sievers, der in Hannover residierte, die Hauptversammlung des wiederauferstandenen Netzwerkes im Herbst 1949 nach Hannover, das in der britischen Besatzungszone lag. Ab Juni 1950 nannte sich die neue alte Zentrale des KV-Netzwerkes bereits »Arbeitsgemeinschaft der Landesstellen der Kassenärztlichen Vereinigungen des Bundesgebietes« und ab September 1953 dann »Kassenärztliche Bundesvereinigung« (KBV). Im Herbst 1954 kam es noch einmal zu heftigem Widerstand gegen die Restauration der KVD - diesmal seitens demokratisch gesinnter Westdeutscher und vor allem seitens der Krankenkassen. Aber es war bereits zu spät. Mittels einer groß angelegten Kampagne des KBV-Vorsitzenden Dr. Sievers, in deren Verlauf er die unbequemen Kritiker als »Amokläufer... mit bösen Dolchen« verunglimpfen ließ (Ärztliche Mitteilungen, Dezember 1954), konnte jeglicher Widerstand gebrochen werden. Längst hatte auch die KBV ihren Amtssitz aus dem amerikanisch besetzten Bad Nauheim ins britisch besetzte Köln verlegt, um dann zum letzten Schritt anzusetzen: Legitimierung der Restauration der KVD durch den Bundestag. Mit der Verabschiedung des Gesetzes über Kassenarztrecht am 17. August 1955 wurde schließlich das langersehnte Ziel erreicht. Natürlich abzüglich des Preises, den man im Zuge der »Entnazifizierungstragödie« (Ärztliche Mitteilungen, Mai 1949) an die Besatzer zu zahlen hatte. Doch Paragraf 5 der Schluss- und Übergangsbestimmungen des Gesetzes verfügte zur Zufriedenheit der Restauratoren den Übergang der Vermögensrechte der KVD an die KBV.
Nach diesem Gesetz unterstand das verwaiste »Haus der Deutschen Ärzte« in Berlin der Kassenärztlichen Bundesvereinigung K.d.ö.R. Köln, Vermögensverwaltung Berlin. Die KBV durfte hier nicht tätig werden, denn nach Alliiertenrecht hatten Bundeseinrichtungen in den Westsektoren Berlins nichts zu suchen. Plötzlich fiel die Mauer, die Alliierten zogen ab. Die ehemalige KVD-Zentrale in Berlin überließ die KBV zahlungskräftigen Gesundheitsfirmen. Sie richtete in einem Neorenaissancebau in der Reinhardtstraße 12-16 ihre neue Dienststelle Berlin ein. Diese liegt näher an der heutigen Machtzentrale. Es ist wohl kein Zufall: Die Entfernung der KBV-Zentrale vom Bundeskanzleramt entspricht in etwa der einstigen der KVD-Zentrale von der Reichskanzlei.
Eine Episode aus der Restaurationsgeschichte soll nicht unerwähnt bleiben: Es gab einen einsamen Rufer, der vor einer Neuauflage der KVD als »ein Monopolunternehmen mit behördlichem Charakter« warnte. Es war Dr. rer. pol. J. Hadrich, 1946 bis 1949 Vorsitzender der Verwaltung der »Ärztlichen Sektorenverbände«, eines ersten Zusammenschlusses Berliner Kassenärzte nach 1945. Im Januar 1950 erschien seine von demokratischer Gesinnung getragene Warnung in den »Ärztlichen Mitteilungen«. War er ein Amerikaner? Ein zurückgekehrter jüdischer Emigrant? Wir wissen es nicht. Heutige Gesundheitspolitiker jedenfalls, die über das Verhältnis der Krankenkassen zu den Ärzten neu nachdenken, sollten an dessen Argumentation nicht vorbeigehen.
Von unserem Autor, 1941 in Royal Leamington Spa/England als Sohn deutsch-jüdischer Emigranten geboren, erschien im ND v. 15.9. 2001 ein Artikel, der sich ausführlich mit der NS-Vergangenheit der KV auseinander setzte.