Der Geschmack der Heimat

Der Mix Markt in Berlin-Marzahn

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 10 Min.
Mutter Maria ist stolz auf ihren Sohn André.
Mutter Maria ist stolz auf ihren Sohn André.

Berlin-Marzahn, Jan-Petersen-Straße. Schräg gegenüber der Aldi-Filiale hat sich ein zweiter Markt etabliert. Offiziell heißt er Mix Markt, der Volksmund nennt ihn »Russenladen«.

Da es noch früher Vormittag ist, sind drei junge Männer damit beschäftigt, die Schaufensterscheiben abzuseifen: Sie sollen blitzen. Zum einen, weil sie den Eingang flankieren und eine Einladung aussprechen können, zum anderen, weil sich gleich hinter ihnen die Obstabteilung des Marktes befindet. Um die kümmert sich André Dik gern persönlich. Äpfel, Birnen, Mangos, Bananen, Weintrauben und Honigmelonen müssen den Kunden anlachen, damit ihm das Wasser im Mund zusammenläuft und er kauft! Dik glaubt: »Türken verstehen etwas davon, Russen nicht.« Außer ihm selbst.

André Dik ist Russlanddeutscher. Und der Chef. Genauer gesagt: Der Markt gehört ihm. Wenn andere Leute ins Theater wie zum Markt zu gehen pflegen, geht er zum Markt wie ins Theater. Schwarzer Anzug, graues Hemd – darunter macht er es nicht. Der seriöse Anzug macht ihn. Im Anzug sieht er wie ein erfolgreicher Geschäftsmann aus. Der ist er auch, doch trüge er Jeans, hielte man ihn für einen großen Jungen. Der ist er ja auch noch irgendwo, hager und hochaufgeschossen, mit gerade mal 34 Lenzen.

Ein Mix Markt ist so etwas wie ein Supermarkt: Es gibt fast alles, was man zum täglichen Leben braucht, und einiges, was man nicht braucht. Nur dass die meisten Produkte in den Regalen russischer oder osteuropäischer Herkunft sind. Hier trifft sich das russlanddeutsche Berlin. Jüdische Aussiedler eher selten – man kennt und schätzt einander nicht; koschere Ware sucht man vergeblich. Dafür findet man die Sowjetunion der 60er und 70er Jahre: üppiger, sauberer, freundlicher. Mehr als hundert Sorten Konfekt, gezuckerte Kondensmilch, Rote Bete, eingelegte Tomaten und Gurken, Gläser mit Borschtsch, marinierte Pilze, Chalwa, Kascha, Sahne, Plow, Kartoffeln, Pelmeni, Käse, Wurst, fürs Wohnzimmer Bilder mit zartgrünen Birken, Goldschmuck, Bücher, süßen Wein und, nicht zu vergessen, Wodka natürlich. »Was wir anbieten, gibt es nirgendwo sonst«, sagt Dik mit Blick auf die Konkurrenz. Bei 14 000 Einwanderern aus den GUS-Staaten, die heute in Berlin leben, ist sein »Russenladen«, leider, nicht der einzige in der Hauptstadt. Doch seiner ist der einzige Mix Markt, der einzige in Ostdeutschland.

Mix Märkte sind Franchise-Märkte und gehören zur Monolith-Gruppe. Deren Grundstein legte ein Spätaussiedler namens Waldemar Völker in Böblingen. Völker, so die Firmenlegende, soll 1989 mit nur 360 Rubeln und vier Koffern nach Deutschland gekommen sein, die Eltern, Frau und zwei Söhne im Schlepptau. Er eröffnete ein Lebensmittelgeschäft, das sich zum Großhandel mauserte. Inzwischen beliefert die Monolith-Gruppe 1000 Kunden in ganz Deutschland, darunter 55 Mix Märkte. Einer davon ist Diks. Vor sieben Jahren hat er bei der Monolith-Gruppe einen Kredit auf- und das Markt-Konzept übernommen. Heute, sagt er, sei er schuldenfrei.

Auch Diks Geschichte, wenn man so will, ist eine Erfolgs-Story. Kindheit und Jugend hat er in einem kleinen kasachischen Dorf verbracht. Er besuchte die Fachschule, schloss eine Ausbildung als Agronom ab und – fuhr Traktor. 1992 dann wurde aus dem 18-jährigen Andrej André. Seine Eltern hatten beschlossen, mit ihm und den zwei Brüdern nach Deutschland zu ziehen. Den Anstoß gaben Briefe der Verwandten-Vorhut: Die berichtete von der schönen Wohnung, vom Auto, das sie gekauft hatte. »Dass das Auto nur 1000 D-Mark gekostet hatte und nach einem Jahr schrottreif war, schrieben sie nicht«, sagt Dik. Ein bisschen müssen die Briefe denen geähnelt haben, die DDR-Bürger vor der Wende von ihren Westverwandten erhielten.

Auch André träumte vom eigenen Auto. Seiner Freundin Swetlana versprach er, dass er sie eines Tages ebenfalls nach Deutschland holen würde – mit einem Mercedes. Das hat nicht ganz geklappt. Denn zunächst, ein halbes Jahr lang, währenddessen er Deutsch lernte, musste er vom Sozialamt leben. Danach hat er eine Umschulung zum Lagerarbeiter gemacht, trotzdem keine Stelle gefunden, eine Zeit lang als Maler gejobbt und 2001 den Markt übernommen. Seinen ersten Mercedes kaufte er 2003; da hatten er und Swetlana schon geheiratet, und die Kinder Daniel und Viktoria waren geboren. Heute wohnt die Familie in Biesdorf in einem Eigenheim, Dik fährt einen Audi A7.

»Besonders gut«, sagt Dik, »gehen Kondensmilch, Pralinen und Kartoffeln.« Das liege am guten Preis. Kartoffeln könne er bis zu zwei Paletten am Tag verkaufen, wobei auf eine Palette 80 Säcke a 10 Kilogramm passen. Dik weiß, dass seine Landsleute viel und gern Kartoffeln essen: zusammen mit eingelegten Tomaten oder Heringen. Das seien billige, schmackhafte Mahlzeiten, Gerichte, die satt machen.

Thomas Blume eilt hinter der Fisch- und der Fleischtheke hin- und her. Er ist Deutscher. Salzheringe füllt er auf Wunsch gleich kiloweise in Plastiktüten. Wie die silbernen Kerlchen auf Russisch heißen, hat Blume schon von seiner russischen Kollegin gelernt. »Siljodka«, sagt er und lacht. Der Ingenieur für Fleischwirtschaft arbeitet gern im Mix Markt. Seit anderthalb Jahren trifft man ihn hier: Nachdem er seine Arbeit in einer deutschen Firma verloren hatte, war die Stelle für ihn die Rettung. Der massige Mann fühlt sich gebraucht: »Solange der Umsatz stimmt, lässt man mich machen. Und er stimmt, darauf können Sie wetten!«

Das Fischangebot ist opulent. Neben Schwertfisch, Lachs, Kaviar und Co. schwimmen in einem gläsernen Becken Forellen, Hechte, Spiegelkarpfen. Auch die Fleischtheke ist gut bestück: mit Spitzbeinen, Eisbeinen, Schweinebauch, Rinderzungen, Schweineherzen, Lunge, Leber, Pansen, Hirn. »Hirn heißt Maski«, gibt Blume zum Besten. Obwohl die Fleischtheke gefüllt mit »Produkten aus der Region« ist, sieht sie doch anders als eine Theke bei »Kaisers« aus. »Das liegt daran, dass wir kein Edelfleisch führen, bei uns zählt Masse«, erklärt Blume. Dann bedient er ein älteres Ehepaar, wobei die Frau die Geschäfte tätigt. Vier Kilo hiervon, fünf Kilo davon – ein Paket nach dem anderen wandert in den Warenkorb. Am Ende hat die Frau gut und gern ein halbes Schwein darin verstaut. Was will sie bloß mit so viel Fleisch? Blume hat beobachtet, »dass unsere russischen Kunden ein anderes Einkaufsverhalten als wir Deutsche haben. Die Kühltruhe muss immer gefüllt sein.« Warum? Das kann Blume nur vermuten. »Falls es morgen nichts mehr gibt? Oder falls die Familie zu Besuch kommt? Die haben alle große Familien. Die treffen sich oft und halten zusammen.«

Die Frau hinter dem Ehepaar lässt sich eine fünf-Kilo-Putenkeule einpacken. Sie heißt Tanja Reiser, ist 62 Jahre alt, perfekt frisiert und in einen eleganten beigefarbenen Wollmantel gehüllt – von Kopf bis Fuß Dame. Gelegentlich unternimmt Frau Reiser einen Ausflug von Steglitz nach Marzahn, um im Mix Markt einzukaufen. »Weil es wie zu Hause schmeckt.« Frau Reiser, eine Lehrerin, verheiratet mit einem Musiker, kam aus dem Kaukasus nach Deutschland und braucht manchmal den Geschmack der Heimat. Sie möchte, dass ihn auch die Enkel, die schon in Deutschland zur Welt kamen, kennen und möglichst lieben lernen. Mit der Putenkeule wird sie 500 Piroggen füllen, die dann in den Gefrierschrank wandern. Heimweh? Nein, verspürt sie nicht. Obwohl weder sie noch ihr Mann eine Arbeit gefunden haben. »In Deutschland«, sagt sie, »gibt es ein Sozialamt. Wo wir herkommen, gab es das nicht.«

Irina Blumfeld kauft im Mix Markt ein, weil sie hier »die kleinen grünen Gurken« findet, »die es woanders nicht gibt«. Außer den Gurken hat sie Kascha im Wagen, Tomaten, Khakis und eine Teekanne für ihre Freundin. Was sie auf keinen Fall anrühren würde: die »furchterregenden« Buttercremetorten im Kühlregal, »diese giftigen Farben, da renne ich weg, ich esse lieber Obsttorte.« Frau Blumfeld lebt schon seit 1961 in Deutschland, also seit 47 Jahren, und fühlt sich »bestens integriert«. Sie macht kein Hehl daraus, dass sie von Menschen wie Frau Reiser nicht viel hält: »Die kommen her und sagen einfach, die Deutschen müssen für uns sorgen.« Sie selbst habe jeden einzelnen Tag bis zur Rente gearbeitet, als Reiseleiterin. Dass Deutschland, vielmehr die DDR sie zu einer Zeit aufnahm, als Arbeitslosigkeit noch kein Thema war, lässt sie nicht gelten: Sie hat nun einmal die älteren Rechte.

Maria Baskal stammt wie Marktchef Dik aus Kasachstan. In Berlin lebt sie seit zwölf Jahren. Die 50-Jährige nennt es Pech, erst zu einem Zeitpunkt gekommen zu sein, »als Arbeitsplätze knapp wurden«. Deutschland, erzählt sie, sei für sie immer ein besonderes Land gewesen: »Meine Mutter, meine Oma und mein Opa waren Deutsche. Ich wollte schon als Kind dorthin, wo ich mit Deutschen reden konnte.« Trotzdem, in den ersten fünf Jahren sei sie vor Heimweh krank gewesen. Jetzt nicht mehr, jetzt sei ihr Zuhause hier. Frau Baskal, eine dunkle Schönheit, hat zwar keinen Traumjob gefunden, doch sie arbeitet als Putzfrau. Was ihr wichtig und worauf sie stolz ist: Alle ihre Söhne haben Arbeit – Alexander sortiert Briefe bei der Post, Peter ist Autolackierer und John Fleischer. Ja, ihr Jüngster heißt John, nicht Jewgeni. »Wir leben jetzt in einem anderen Land, es bleibt nicht aus, dass man sich anpasst. Ich kaufe hier auch nur selten ein. Manchmal essen wir deutsch, manchmal chinesisch. Doch manchmal vermisse ich sie eben, die Lebensmittel meiner Kindheit.«

Was Jelena Rolgeiser in Berlin vermisst, ist vor allem die »russische Mentalität«. Die sei offener, herzlicher als die deutsche, »in Russland hatten wir zu unseren Nachbarn Kontakt«. Damit will sie sagen, dass sie hier keinen Kontakt zu ihren Nachbarn hat, aber sie will nicht sagen, dass die Deutschen keinen Kontakt zu Russen pflegen, sondern auch untereinander keinen. Das findet sie traurig. Traurig macht sie auch, dass ihr Mann zum 1. Februar seine Arbeit als Linienbusfahrer verloren hat. »Wer Arbeit hat«, sagt sie, »gehört dazu. Nicht nur uns Einwanderer betrifft das.« Die 39-Jährige, deren Kinder Anna und Nikolai gute Noten aus der Schule nach Hause bringen, kauft normalerweise bei Netto und im Penny-Markt ein. Heute begleitet sie eine Freundin.

Gegen elf erscheinen André Diks Mutter Maria und Vater Wladimir. Mutter Maria will Borschtsch kochen und greift nach einer Packung Sauerkraut. »Fein«, sagt sie, »das ist schon zubereitet, muss ich nicht erst Kohl schneiden«. Während sie den Einkaufswagen vollpackt, geht Vater Wladimir nach hinten ins Lager, an seinen Arbeitsplatz. Er hat bei Sohn André einen Job. Genau wie Arthur, der Sohn von Wladimirs Bruder, und Andrés jüngster Bruder Alexander.

Alexander ist ein gutaussehender junger Mann. Die Mädchen laufen ihm hinterher. Schon deshalb kommt es für ihn nicht in Frage, sich eine Marktschürze umzubinden, während er die Regale auffüllt. Zwar hat er eine Kaufmannslehre absolviert, aber Lust, seinen Brüdern nachzueifern, hat er nicht. Auch sein dritter Bruder betreibt nämlich einen Markt, der arbeitet 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr. Dazu ist Alexander noch nicht bereit. Bruder André sorgt dafür, dass »der Kleine« wenigstens etwas tut, bis er weiß, was er einmal mit sich anfangen wird.

Dass ein Mitglied seiner Familie dem Staat auf der Tasche liegt, lässt Dik nicht zu. Er glaubt: »Wenn es kein Sozialamt gäbe, würden alle arbeiten.« Erst vor ein paar Tagen haben drei seiner russischen Verkäuferinnen gekündigt: Ihre Männer haben verlangt, dass sie zu Hause für sie kochen. Dafür hat er kein Verständnis. »Wer will, der kann auch. Wer arbeitet, der ist unabhängig«, sagt er.

So redet einer, der es geschafft hat. Überraschenderweise widerspricht er: Nein, er habe es nicht geschafft. Vielleicht habe er etwas geschafft: ein Geschäft aufgebaut und dabei Freunde verloren. »Mir geht es gut, doch die innere Welt ist kalt.« Vielleicht verlässt er Deutschland wieder. Dik: »Die Entwicklung geht bergab. Wenn es irgendwo bergab geht, verabschieden sich die klugen Köpfe.« Dik hält sich für einen klugen Kopf. Bekannte von ihm seien schon nach Spanien oder Kanada weitergezogen.

So spricht keiner, der Heimat gefunden hat. Vielleicht hat er sie nicht gesucht.

www.mixmarkt.de

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal